Harry Bosch 15 - Neun Drachen
vermutete, dass es sich dabei um eine Darstellung des Massakers an den Shaolin-Mönchen handelte, das, wie ihm Chu erzählt hatte, zur Entstehung der Triaden geführt hatte. Die Form des Messers wies auffallende Ähnlichkeit mit der Tätowierung auf Changs Unterarm auf.
Das Messer war ein interessanter Fund und möglicherweise ein Hinweis auf Changs Zugehörigkeit zur Yung-Kim-Triade, aber es war kein Indiz für eine Straftat. Bosch legte es zu den anderen Gegenständen auf das Bord und setzte die Suche fort.
Wenig später war der Koffer leer. Um sich zu vergewissern, dass nichts unter dem Futter versteckt war, tastete Bosch die Innenwände ab, aber auch da entdeckte er nichts. Zum Schluss hob er den Koffer kurz hoch, in der Hoffnung, er würde sich zu schwer anfühlen, um leer zu sein. Aber das war nicht der Fall, und Bosch war sicher, nichts übersehen zu haben.
Als Letztes nahm er sich die zwei Paar Schuhe vor, die Chang eingepackt hatte. Er hatte sie zuvor schon flüchtig untersucht, dann jedoch beiseitegestellt. Er wusste, dass man einen Schuh, wenn man ihn gründlich durchsuchen wollte, auseinandernehmen musste. Normalerweise tat er das nur ungern, weil die Schuhe dann nicht mehr zu gebrauchen waren, und Bosch wollte niemanden um seine Fußbekleidung bringen, selbst wenn es ein Verdächtiger war. Aber in diesem Fall war es ihm egal.
Das erste Paar, das er sich vornahm, waren die Arbeitsstiefel, die er Chang am Tag zuvor in der Werkstatt hatte tragen sehen. Auch wenn sie alt und abgenutzt waren, war ihnen anzusehen, dass ihr Besitzer an ihnen hing. Die Schnürsenkel waren neu, und das Oberleder war wiederholte Male eingefettet worden. Um die Zunge vollständig aufklappen und in die Schuhe hineinschauen zu können, entfernte Bosch die Schuhbänder. Dann stemmte er mit der Schere die Fersenpolsterung auf, um nachzusehen, ob sich im Absatz darunter ein Geheimfach befand.
Im ersten Stiefel fand Bosch nichts, aber im zweiten entdeckte er zwischen zwei Schichten der Polsterung eine Visitenkarte.
Aufgeregt stellte Bosch den Stiefel beiseite und betrachtete die Karte. Endlich hatte er etwas gefunden.
Die Karte war beidseitig bedruckt. Auf einer Seite chinesisch, auf der anderen englisch. Natürlich studierte Bosch zuerst die englische Seite.
JIMMY FONG
FUHRPARKMANAGER
CAUSEWAY TAXI SERVICE
Darunter waren eine Adresse in Causeway Bay und zwei Telefonnummern angegeben. Zum ersten Mal, seit er mit der Durchsuchung des Koffers begonnen hatte, setzte sich Bosch. Er starrte weiter auf die Visitenkarte und überlegte, was sie bedeutete – falls sie überhaupt etwas bedeutete. Causeway Bay war nicht weit von Happy Valley und dem Einkaufszentrum entfernt, in dem seine Tochter höchstwahrscheinlich entführt worden war. Und natürlich stellte sich grundsätzlich die Frage, warum Chang die Visitenkarte des Fuhrparkmanagers eines Taxiunternehmens im Absatz seines Arbeitsstiefels versteckt hatte.
Bosch drehte die Karte um und betrachtete die chinesische Seite. Wie auf der englischen Seite waren drei Zeilen Text darauf und in der linken unteren Ecke die Adresse und die Telefonnummern. Aller Wahrscheinlichkeit nach stand auf beiden Seiten der Karte das Gleiche.
Bosch kopierte die Karte und steckte das Original in eine Beweismitteltüte, damit auch Chu sie sich ansehen könnte. Dann nahm er sich das zweite Paar Schuhe vor. Zwanzig Minuten später war er fertig, ohne noch mehr entdeckt zu haben. Die Visitenkarte war zwar ein interessanter Fund, aber insgesamt war er vom Ergebnis der Durchsuchung enttäuscht. Er packte alle Gegenstände, soweit es ging, wieder so in den Koffer, wie er sie vorgefunden hatte. Dann klappte er ihn zu und zog den Reißverschluss zu.
Nachdem er den Koffer wieder auf den Boden gestellt hatte, rief er seinen Partner an. Er hoffte, bei der Durchsuchung von Changs Auto wäre mehr herausgekommen als bei der Durchsuchung des Handys und des Koffers.
»Wir sind erst zur Hälfte fertig«, berichtete Ferras. »Sie haben mit dem Kofferraum angefangen.«
»Und?«
»Bisher nichts.«
Bosch spürte seine Hoffnungen versiegen. Es würde ihnen nicht gelingen, Chang etwas anzuhängen. Und das hieß, er würde am Montag freikommen.
»Hast du auf dem Handy irgendwas Interessantes gefunden?«, fragte Ferras.
»Nein, nichts. Er hat alles gelöscht. Im Koffer war auch nicht viel.«
»Scheiße.«
»Allerdings.«
»Aber wie gesagt, wir sind gerade mit dem Kofferraum fertig geworden und nehmen uns jetzt das
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