Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
war so laut wie ein Schuss.
»Wir werden diesen Punkt nicht in Anwesenheit der Geschworenen klären, Mr. Royce. Würden die Geschworenen bitte in ihr Zimmer zurückkehren.«
Mit großen Augen und in vollem Bewusstsein der angespannten Atmosphäre im Saal erhoben sich die Geschworenen von ihren Sitzen, und alle blickten beim Hinausgehen neugierig zurück, um zu sehen, was hinter ihnen vorging. Währenddessen sah Royce die Richterin die ganze Zeit unverwandt an. Und Bosch wusste, dass das in erster Linie nichts als Show war. Denn Royce hatte es nur auf eines angelegt: Die Geschworenen sollten den Eindruck gewinnen, dass er benachteiligt und daran gehindert würde, seine Argumente vorzubringen. Da tat es nichts zur Sache, dass sie aus dem Saal geschickt wurden. Jedem von ihnen war klar, dass Royce gleich einen gewaltigen Rüffel von der Richterin erteilt bekäme.
Sobald sich die Tür des Geschworenenzimmers geschlossen hatte, wandte sich die Richterin wieder Royce zu. Offensichtlich hatte sie sich in den dreißig Sekunden, die die Geschworenen gebraucht hatten, um den Saal zu verlassen, wieder beruhigt.
»Mr. Royce, wenn dieser Prozess zu Ende ist, werde ich Ihr heutiges Verhalten zum Gegenstand einer Verhandlung wegen Missachtung des Gerichts machen und entsprechend ahnden lassen. Bis dahin werde ich den Deputy auffordern, Sie mit Gewalt dazu zu bringen, Platz zu nehmen, wenn ich Sie auffordere, sich zu setzen, und Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen. Und künftig werde ich dabei auch keine Rücksicht darauf nehmen, ob die Geschworenen anwesend sind oder nicht. Ist das klar?«
»Ja, Euer Ehren. Und ich möchte mich entschuldigen, dass ich in der Hitze des Gefechts kurz die Beherrschung verloren habe.«
»Gut, Mr. Royce. Dann nehmen Sie jetzt bitte Platz, und wir holen die Geschworenen wieder herein.«
Sie sahen sich noch eine Weile in die Augen, bevor sich Royce endlich langsam setzte. Dann forderte die Richterin den Deputy auf, die Geschworenen zu holen.
Bosch beobachtete die Geschworenen bei ihrer Rückkehr. Alle hatten den Blick auf Royce gerichtet, und Bosch entging nicht, dass der Trick des Strafverteidigers seinen Zweck erfüllt hatte. Er sah Verständnis in ihren Augen, so, als ob ihnen allen bewusst wäre, dass auch sie die Richterin jeden Moment gegen sich aufbringen und auf ähnliche Weise in die Schranken gewiesen werden könnten. Sie wussten nicht, was passiert war, während sie hinter der verschlossenen Tür gewartet hatten, aber Royce war für sie wie ein Schüler, der zum Direktor geschickt worden war und jetzt zurückkam, um in der Pause allen davon zu erzählen.
Bevor Richterin Breitman die Verhandlung fortsetzte, richtete sie sich an die Geschworenen.
»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass bei einem Prozess wie diesem die Emotionen mit den Beteiligten manchmal etwas durchgehen können. Mr. Royce und ich haben uns über den strittigen Punkt auseinandergesetzt, und die Sache ist nun geklärt. Sie brauchen sich weiter keine Gedanken darüber zu machen. Lassen Sie uns also mit der Verlesung der beeideten Zeugenaussage fortfahren. Mr. Haller?«
»Ja, Euer Ehren.«
Haller stand auf und ging mit dem Ausdruck von Doral Klosters Aussage zum Pult.
»Detective Bosch, Sie stehen weiterhin unter Eid. Haben Sie das Protokoll der beeideten Zeugenaussage, die Detective Doral Kloster am 8. Oktober 1986 zu Protokoll gegeben hat?«
»Ja.«
Bosch legte das Protokoll auf die Ablageplatte im Zeugenstand und zog eine Lesebrille aus der Innentasche seines Sakkos.
»Okay, also dann noch einmal«, begann Haller. »Ich werde die Fragen vorlesen, die Detective Kloster von Deputy District Attorney Gary Lintz unter Eid gestellt bekam, und Sie lesen die Antworten des Zeugen.«
Nach einigen grundsätzlichen Fragen zu Klosters Person richtete sich das Augenmerk rasch auf die Ermittlungen im Mordfall Melissa Landy.
»›Sie gehören dem Kriminaldezernat der Wilshire Division an, richtig, Detective?‹«
»›Ja, der Abteilung Mord und Schwerverbrechen.‹«
»›Und dieser Fall war zuerst kein Mord.‹«
»›Zunächst nicht. Nachdem jedoch ein Streifenwagen zum Haus der Landys gerufen worden war und erste Ermittlungen ergeben hatten, dass allem Anschein nach eine Entführung durch eine fremde Person vorlag, hat man meinen Partner und mich zu Hause telefonisch verständigt. Sobald die Tat als Schwerverbrechen eingestuft war, wurden wir eingeschaltet.‹«
»›Was geschah, als Sie im Haus der Landys
Weitere Kostenlose Bücher