Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Landy mit allen Mitteln zu vertuschen versucht hatte, dass Melissa, sei es nun versehentlich oder gezielt, von der Hand ihres Stiefvaters gestorben war.
Das würde nicht ganz einfach werden. Um damit durchzukommen, müsste der Verteidigung wenigstens ein Geschworener abnehmen, dass hier zwei Komplotte einerseits zwar völlig unabhängig voneinander inszeniert worden waren, sich aber zugleich gegenseitig ideal ergänzt hatten. Mir fielen allerdings nur zwei Strafverteidiger in ganz L.A. ein, die dazu in der Lage gewesen wären, und einer von ihnen war Royce. Ich musste auf der Hut sein.
»Was geschah, nachdem Sie die Haare in der Sitzspalte des Abschleppautos entdeckt hatten?«, fragte Royce die Zeugin. »Erinnern Sie sich daran noch?«
»Ich habe sie Art Donovan gezeigt, weil er derjenige war, der die Beweisstücke gesammelt hat. Ich war nur dabei, um ihm bei der Arbeit zuzusehen und Erfahrungen zu sammeln.«
»Wurden die Detectives Kloster und Steiner dazugeholt, um sie sich ebenfalls anzusehen?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Können Sie sich erinnern, was sie dann, wenn überhaupt etwas, getan haben?«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass sie, was den Haarfund anging, überhaupt etwas unternommen haben. Es war ihr Fall, und deshalb wurden sie über den Beweisfund in Kenntnis gesetzt, aber damit hatte es sich.«
»Waren Sie zufrieden mit sich?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Es war Ihr erster Tag im Polizeidienst – Ihr erster Fall. Haben Sie sich gefreut, dass Sie die Haare entdeckt hatten? Waren Sie stolz?«
Gordon zögerte mit ihrer Antwort. Es war, als überlegte sie, ob es sich bei der Frage um eine Falle handeln könnte.
»Ja, es hat mich gefreut, dass ich etwas zu den Ermittlungen beitragen konnte.«
»Und haben Sie sich jemals gefragt, warum ausgerechnet Sie, die Berufsanfängerin, die Haare in der Ritze zwischen den Sitzen entdeckt hatten? Vor Ihrem Vorgesetzten und vor den zwei leitenden Ermittlern?«
Gordon zögerte erneut und sagte dann nein. Royce erklärte, er habe keine weiteren Fragen. Es war ein hervorragendes Kreuzverhör gewesen, bei dem er zahlreiche Samen gesetzt hatte, die später in der Beweisführung der Verteidigung zu etwas Größerem erblühen konnten.
Als ich danach die Befragung Gordons wieder aufnahm, versuchte ich dem nach Kräften entgegenzusteuern, indem ich die Zeugin bat, die Namen von sechs Streifenpolizisten und zwei weiteren Detectives vorzulesen, die laut Tatortanwesenheitsprotokoll vor Kloster und Steiner an der Fundstelle von Melissa Landys Leiche eingetroffen waren.
»Wenn also, rein hypothetisch, Detective Kloster und/oder sein Partner Detective Steiner die Absicht gehabt hätten, ein paar Haare des Opfers von diesem zu entfernen und sie an einer anderen Stelle zu deponieren, hätten sie dies entweder unter den Augen acht anderer Polizisten tun oder sich deren Komplizenschaft versichern müssen. Ist das richtig?«
»Ja, so sieht es jedenfalls aus.«
Ich dankte der Zeugin und setzte mich. Darauf kehrte Royce ans Pult zurück, um das Kreuzverhör wieder aufzunehmen.
»Wenn also Kloster oder Steiner, ebenfalls hypothetisch, Haare des Opfers am dritten Tatort hätten anbringen wollen, wäre es nicht nötig gewesen, sie direkt vom Kopf des Opfers zu entfernen, wenn es dafür andere Quellen gegeben hätte, richtig?«
»Wahrscheinlich nicht, wenn es andere Quellen gab.«
»Eine Haarbürste im Haus des Opfers hätte zum Beispiel ebenfalls dessen Haare enthalten können, richtig?«
»Ich denke schon.«
»Die beiden Detectives waren doch im Haus des Opfers, oder?«
»Ja, das war einer der Orte, an denen sie sich ins Protokoll eingetragen haben.«
»Keine weiteren Fragen.«
Royce hatte mich festgenagelt, und ich beschloss, diesem Punkt nicht weiter nachzugehen. Egal, was ich der Zeugin entlockte, Royce hätte immer etwas, was er dagegen anführen konnte.
Gordon wurde entlassen, und die Richterin schickte uns in die Mittagspause. Ich sagte Bosch, dass nach der Pause er an der Reihe sei und Klosters Aussage zu Protokoll geben müsse. Ich fragte ihn, ob er mit mir essen gehen wolle, um über die Theorie der Verteidigung zu sprechen, aber er sagte, er könne nicht, er habe etwas zu erledigen.
Da Maggie ins Hotel ging, um mit Sarah Ann Gleason zu Mittag zu essen, war ich mir selbst überlassen.
Dachte ich zumindest.
Als ich den Mittelgang hinauf zum hinteren Ausgang des Gerichtssaals schritt, kam aus der hintersten Sitzreihe eine attraktive Frau auf
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