Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
mich zu. Sie blieb lächelnd vor mir stehen.
»Mr. Haller, ich bin Rachel Walling vom FBI .«
Zuerst schaltete ich nicht, doch dann blieb der Name an irgendeiner Gehirnwindung hängen.
»Ach ja, die Profilerin. Sie haben meinen Ermittler mit Ihrer Theorie, der Angeklagte wäre ein Serienmörder, ein wenig abgelenkt.«
»Ich hoffe doch, es war mehr Hilfestellung als Ablenkung.«
»Das wird sich erst zeigen. Was kann ich für Sie tun, Agent Walling?«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Zeit hätten, mit mir Mittag zu essen. Aber nachdem Sie mich als Ablenkung betrachten, sollte ich vielleicht …«
»Wissen Sie was, Agent Walling. Sie haben Glück. Ich habe gerade nichts vor. Gehen wir doch Mittag essen.«
Ich deutete auf die Tür, und wir gingen nach draußen.
30
Dienstag, 6. April, 13:15 Uhr
D iesmal war es die Richterin, die zu spät kam. Anklage und Verteidigung saßen pünktlich auf ihren Plätzen und warteten darauf, weiterzumachen, aber von Breitman war nichts zu sehen. Und die Protokollführerin hatte nicht durchblicken lassen, ob die Verspätung persönliche oder prozessbedingte Gründe hatte.
Bosch erhob sich von seinem Platz an der Schranke und tippte Haller auf den Rücken.
»Harry, es geht gleich los. Bist du bereit?«
»Ja, aber wir müssen reden.«
»Wieso? Was ist?«
Bosch drehte sich so, dass sein Rücken dem Tisch der Verteidigung zugekehrt war, und senkte die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern.
»Ich habe mich in der Mittagspause mit den Jungs von der SIS getroffen. Sie haben mir etwas gezeigt, wovon du unbedingt wissen solltest.«
Er drückte sich übertrieben kryptisch aus. Aber die Fotos, die ihm Lieutenant Wright von der Observierung letzte Nacht gezeigt hatte, waren beunruhigend. Jessup führte etwas im Schilde, und egal, was es war, es würde bald passieren.
Bevor Haller antworten konnte, legte sich das Stimmengewirr im Saal. Die Richterin nahm auf der Bank Platz.
»Nach der Verhandlung«, flüsterte Haller.
Er drehte sich wieder nach vorn, und Bosch kehrte an seinen Platz an der Schranke zurück. Die Richterin forderte den Deputy auf, die Geschworenen in den Saal zu holen, und wenig später saßen alle auf ihren Plätzen.
»Ich muss mich entschuldigen«, erklärte Breitman. »Diese Verzögerung geht auf mein Konto. Ich musste mich um eine Privatangelegenheit kümmern, und das hat wesentlich länger gedauert als erwartet. Mr. Haller, bitte rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf.«
Haller erhob sich und rief Doral Kloster auf. Als darauf Bosch aufstand und zum Zeugenstand ging, erklärte die Richterin den Geschworenen noch einmal, dass der von der Anklage aufgerufene Zeuge nicht vor Gericht erscheinen könne und deshalb dessen frühere beeidete Aussage von Bosch und Haller verlesen werde. Obwohl dieser Punkt trotz eines Einspruchs der Verteidigung bereits bei der Vorverhandlung geklärt worden war, stand Royce auf und legte erneut Einspruch ein.
»Mr. Royce, mit diesem Punkt haben wir uns bereits zur Genüge befasst«, erklärte die Richterin.
»Ich möchte das Gericht ersuchen, seine Entscheidung zu überdenken, da diese Form der Zeugenaussage Mr. Jessups verfassungsmäßigem Recht zuwiderläuft, seine Beschuldiger zur Rede zu stellen. Detective Kloster bekam nicht die Fragen gestellt, die ihm die Verteidigung angesichts der aktuellen Sicht der Dinge stellen möchte.«
»Ich kann mich nur wiederholen, Mr. Royce: Dieser Punkt wurde bereits geklärt, und ich möchte dieses Thema in Anwesenheit der Geschworenen nicht noch einmal aufkochen.«
»Aber, Euer Ehren, ich werde daran gehindert, eine adäquate Verteidigung vorzutragen.«
»Mr. Royce, ich war sehr kulant und habe Ihnen in Anwesenheit der Geschworenen schon genug durchgehen lassen. Aber langsam geht mir die Geduld aus. Setzen Sie sich bitte.«
Royce starrte die Richterin nieder. Bosch wusste, was er damit bezweckte. Sein Auftritt zielte einzig und allein auf die Geschworenen ab. Sie sollten ihn und Jessup als die Underdogs in diesem Verfahren sehen. Sie sollten den Eindruck gewinnen, dass nicht nur die Anklage, sondern auch die Richterin gegen Jessup war. Als er Breitman so lange herausfordernd angestarrt hatte, wie er sich erlauben zu können glaubte, erklärte er:
»Euer Ehren, wie soll ich mich einfach wieder setzen, wenn die Freiheit meines Mandanten auf dem Spiel steht. Das ist ein unerhörter …«
Breitman klatschte aufgebracht mit der Hand auf den Tisch. Das Geräusch, das dabei entstand,
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