Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
machte ihn noch gefährlicher. Zwar hatte er zu Beginn seiner Juristenlaufbahn kurz als Staatsanwalt gearbeitet, war dann jedoch zwanzig Jahre als Bürgerrechtsanwalt tätig gewesen, bevor er als krasser Außenseiter für den Posten des District Attorney kandidiert hatte und auf einer Welle der Abneigung gegen alles, was nach Polizei und Strafjustiz roch, ins Amt gespült worden war. Entsprechende Vorsicht ließ ich bei dem noblen Mittagessen walten, sobald mir die Serviette in den Schoß gelegt wurde.
»Ich für Sie arbeiten?«, fragte ich. »Und als was?«
»Als Sonderankläger. Eine einmalige Sache. Ich möchte, dass Sie den Fall Jason Jessup übernehmen.«
Ich sah Williams lange an. Zuerst dachte ich, ich müsste schallend loslachen. Das konnte nur ein geschickt eingefädelter Streich sein. Doch mir wurde schnell klar, dass das nicht sein konnte. Diese Leute luden einen nicht in den Water Grill ein, nur um einem einen Streich zu spielen.
»Sie wollen, dass ich gegen Jessup die Anklage vertrete? Meines Wissens gibt es da nicht groß was anzuklagen. Dieser Fall ist wie eine Ente ohne Flügel. Man muss sie nur noch abschießen und essen.«
Williams schüttelte den Kopf, als wollte er nicht mich, sondern sich selbst von etwas überzeugen.
»Nächsten Dienstag jährt sich der Mord wieder einmal«, sagte er. »Ich werde bekanntgeben, dass wir beabsichtigen, den Fall neu aufzurollen. Und ich würde es begrüßen, wenn Sie bei der Pressekonferenz an meiner Seite stünden.«
Ich lehnte mich zurück und sah die beiden an. Ich habe einen nicht unerheblichen Teil meines Lebens damit zugebracht, mich in Gerichtssälen umzuschauen und das Mienenspiel von Geschworenen, Richtern, Zeugen und Staatsanwälten zu ergründen. Ich glaube, darin inzwischen ziemlich gut zu sein. Aber in diesem Moment war ich nicht in der Lage, Williams oder seinen Begleiter auch nur annähernd zu durchschauen, obwohl sie mir, nur einen Meter entfernt, am Tisch gegenübersaßen.
Jason Jessup war ein Kindermörder, der beinahe vierundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht hatte, bis einen Monat zuvor der California Supreme Court das Urteil gegen ihn revidiert und den Fall an das Los Angeles County zurückverwiesen hatte, damit es ihn entweder neu verhandelte oder die Anklage fallenließ. Die Aufhebung des Urteils war nach einem zwanzig Jahre währenden Rechtsstreit erfolgt, der hauptsächlich aus Jessups Zelle und unter seiner Federführung betrieben worden war. Auch wenn der selbsternannte Anwalt bei den Gerichten mit seinen zahllosen Einsprüchen, Anträgen, Beschwerden und sonstigen juristischen Winkelzügen auf Granit gebissen hatte, war es ihm irgendwann gelungen, die Aufmerksamkeit einer Anwaltsorganisation auf sich zu lenken, die sich Genetic Justice Project nennt. Sie nahmen sich seines Falls an und erwirkten schließlich mittels einer richterlichen Verfügung, dass die Spermaspuren auf dem Kleid des Mädchens, wegen dessen Ermordung Jessup verurteilt worden war, einem Gentest unterzogen wurden.
Jessup war verurteilt worden, bevor DNA -Analysen bei Strafprozessen Beweiskraft hatten. Der viele Jahre später durchgeführte Gentest ergab, dass das auf dem Kleid des ermordeten Mädchens gefundene Sperma nicht von Jessup stammte, sondern von einer unbekannten Person. Obwohl die Gerichte Anfechtungen von Jessups Verurteilung immer wieder hatten abweisen können, ließ diese neue Erkenntnis die Waage zugunsten Jessups ausschlagen. Angesichts der DNA -Tests und anderer Unstimmigkeiten in der Beweisführung und in den Prozessakten revidierte der Oberste Gerichtshof des Staates Kalifornien das Urteil schließlich.
Das war mehr oder weniger alles, was ich über den Fall Jessup wusste, und dieses Wissen stützte sich größtenteils auf Zeitungsmeldungen und Gerichtsklatsch. Auch wenn ich nicht den vollständigen Gerichtsbeschluss kannte, hatte ich Teile davon in der
Los Angeles Times
gelesen und wusste daher, dass diese folgenschwere Entscheidung sowohl Jessups hartnäckig vorgebrachten Unschuldsbeteuerungen sowie verschiedenen Anzeichen von polizeilichem und staatsanwaltlichem Fehlverhalten Rechnung trug. Ich könnte nicht behaupten, dass es mich als Strafverteidiger nicht mit einer gewissen Genugtuung erfüllte, dass die Staatsanwaltschaft wegen dieser Entscheidung seitens der Medien unter massiven Beschuss geriet. Nennen Sie es meinetwegen die Schadenfreude eines Underdogs. Da spielte es auch nicht wirklich eine Rolle, dass es nicht mein Fall war
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