Harry Dresden 09: Weiße Nächte
Jahr.“
„Wenn du die nächsten fünf bis sechs Jahre so weitermachst“, knurrte ich, „bist du vielleicht – vielleicht – so weit, dass du versuchen kannst, dich alleine durchzuschlagen. Bis es soweit ist, bist du der Lehrling, ich bin der Lehrer, und du tust gefälligst, was ich dir sage.“
„Aber ich kann dir helfen!“
„Aus einer Gefängniszelle nicht“, gab ich zu bedenken.
„Sie haben widerrechtlich einen Tatort betreten“, klärte Murphy sie auf.
„Oh bitte“, sagte Molly voller Aufmüpfigkeit und Verachtung. (Falls es noch nicht aufgefallen ist: Molly hatte ein Problem mit Autorität.)
Das war höchstwahrscheinlich das Schlimmste, was sie in dieser Situation hatte sagen können.
„Gut“, sagte Murphy. Sie zog ein Paar Handschellen aus ihrer Jackentasche und ließ sie um Mollys Handgelenk schnappen. „Sie haben das Recht zu schweigen.“
Mollys Augen weiteten sich, und sie starrte zu mir empor. „Was? Harry …“
„Sollten Sie auf dieses Recht verzichten“, fuhr Murphy fort, die das wie ein lange eingeübtes Ritual herunterbetete, „wird alles, was Sie jetzt sagen, später vor Gericht gegen Sie verwendet werden.“
Ich zuckte die Achseln. „Tut mir leid, Kleine. Das ist das wirkliche Leben. Aber sieh es positiv, deine Jugendstrafakte ist geschlossen, also wirst du wie eine Erwachsene behandelt werden. Erstvergehen, ich bezweifle, dass du länger sitzen wirst, als … Murph?“
Murphy hielt in ihrem Miranda-Mantra inne. „Vielleicht dreißig bis sechzig Tage.“ Dann fing sie wieder an.
„Na bitte, siehst du? Ist doch keine große Sache. Wir sehen uns in ein bis zwei Monaten.“
Molly erbleichte. „Aber … aber …“
„Oh“, fügte ich noch hinzu, „achte darauf, dass du an deinem ersten Tag jemanden verprügelst. Angeblich erspart dir das jede Menge Scherereien.“
Murphy zog Molly hoch. „Haben Sie Ihre Rechte verstanden, die ich Ihnen gerade erklärt habe?“
Mollys Mund klappte auf. Ihr Blick schweifte zwischen Murphy und mir hin und her, und ihre Züge waren in Entsetzen eingefroren.
„Oder“, schlug ich vor, „du könntest dich entschuldigen.“
„Tut ... tut mir leid, Harry“, sagte sie.
Ich seufzte. „Nicht bei mir, Kleine. Das ist nicht mein Tatort.“
„Aber …“ Molly schluckte und sah Murphy an. „Ich habe doch nur da g... gestanden.“
„Tragen Sie Handschuhe?“, bohrte Murphy weiter.
„Nein.“
„Schuhe?“
„Ja.“
„Was angefasst?“
„Ähm.“ Molly schluckte nochmals. „Die Tür. Hab sie einfach ein wenig aufgedrückt. Diese chinesische Vase, in der sie ihre Minze gepflanzt hat. Die mit dem Sprung.“
„Was wiederum bedeutet“, meinte Murphy ungerührt, „dass bei einer gründlichen forensischen Untersuchung Ihre Fingerabdrücke, Abdrücke Ihrer Schuhe und, wenn ich mir ansehe, wie spröde Ihr Haargel ist, wahrscheinlich auch abgebrochene Haare auftauchen werden, wenn ich beweisen kann, dass wir es hier mit einem Mord zu tun haben. Da Sie weder eine mit der Untersuchung betraute Polizeibeamtin noch eine offizielle Beraterin sind, werden diese Beweismittel so ausgelegt, dass Sie sich an einem Tatort befunden haben, und das wiederum könnte Sie mitten in eine Mordermittlung hineinziehen.“
Molly schüttelte verzagt den Kopf. „Aber Sie haben doch gerade gesagt, dass es sich hier offiziell um einen Selbstmord handelt …“
„Selbst wenn das so ist, sind Sie nicht so mit dem Polizeiprotokoll vertraut wie etwa Harry. Allein Ihre Anwesenheit kann den Tatort verunreinigen und wertvolle Beweismittel verschleiern, die uns den wahren Mörder offenbaren könnten. Wodurch es schwerer wird, diesen aufzustöbern, ehe er erneut zuschlägt.“
Molly starrte sie einfach nur bestürzt an.
„Aus genau diesem Grund gibt es Gesetzte, was Zivilisten und Tatorte betrifft. Das hier ist kein Spiel, Miss Carpenter“, sagte Murphy kühl, auch wenn sie nicht wirklich wütend war. „Fehler hier können Menschenleben kosten. Verstehen Sie?“
Molly blickte erneut panisch zwischen Murphy und mir hin und her, und ihre Schultern sanken. „Ich wollte nicht … Es tut mir leid.“
Ich sagte sanft: „Entschuldigungen bringen die Toten auch nicht wieder ins Leben zurück. Du hast immer noch nicht gelernt, die Konsequenzen deiner Taten abzuschätzen, und das kannst du dir nicht leisten. Nicht mehr.“
Molly zuckte unmerklich zusammen und nickte.
„Ich vertraue darauf, dass dies hier nie wieder passieren wird“, sagte
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