Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
überlassen. Nur gab es niemand anderen, deswegen war ich ja in der Mittagspause aufgelaufen. Ms. Dereks Assistentin war offensichtlich gerade zu Tisch. „Wen darf ich melden?“, fragte die Empfangsdame seufzend.
Ich reichte ihr Vince Gravers Visitenkarte. „Sagen Sie ihr bitte, Vince hätte unerwartet weitere Informationen aufgetrieben, von denen sie unbedingt erfahren muss.“
Sie drückte auf einen Knopf, rückte ihren Headset zurecht und leitete meine Botschaft pflichtschuldig an irgendjemanden am anderen Ende der Leitung weiter. Nachdem sie sich angehört hatte, was dieser Jemand zu sagen hatte, nickte sie. „Hier hinter der Tür den Flur hinunter. Die zweite Tür links.“
Ich bedankte mich. Hinter der Tür in ihrem Rücken wurde der Teppichboden womöglich noch weicher, die Dekoration noch kostbarer. Eine Nische in der Wand beherbergte ein kleines Wasserspiel zwischen zwei tiefen Ledersesseln, die pro Stück gut und gerne ihre zweitausend Dollar gekostet haben mochten. Hier roch es förmlich nach Macht, Erfolg und dem Bedürfnis, alle Welt wissen zu lassen, wie erfolgreich und überlegen man war.
Das Ostentatorium in Edinburgh hätte die Leute hier unter Garantie vor Neid erblassen lassen.
Hinter der zweiten Tür links fand ich ein nicht besetztes Vorzimmer und eine offenstehende Tür, die wohl in ein dem Status der Anwältin Evelyn Derek angemessenes Chefbüro führte.
„Kommen Sie rein, Mr. Graver!“, rief eine ungeduldige Stimme aus dem Büroinneren.
Nur zu gern kam ich der Aufforderung nach und schloss die Tür hinter mir. Das Büro war groß, aber beileibe nicht riesengroß, wahrscheinlich war Ms. Derek nur Angestellte und noch nicht Partnerin der Kanzlei. Sie hatte sich für glatte, ultramoderne Büromöbel entschieden, jede Menge Glas und Metall, ganz Weltraumzeitalter. Außer dem üblichen – Schreibtisch, Stuhl, Sitzgarnitur – befand sich nicht viel im Raum: ein kleines Aktenregal, ein Regal mit rechtswissenschaftlicher Fachliteratur, ein zierlicher, sehr zerbrechlich wirkender Laptop und in einem Rahmen an der Wand ein Fell – bestimmt von einem seltenen Tier und unter Garantie teuer. Das Büro hatte ein Fenster, durch das man allerdings kaum hindurchsehen konnte, da es vor Kälte beschlagen war. Dann gab es da noch einen Couchtisch und ein Likörschränkchen, beides aus Glas und ohne einen Fleck oder Fingerabdruck. Das Zimmer insgesamt strahlte ungefähr so viel Wärme und Gemütlichkeit aus wie ein Operationssaal.
Die Frau, die am Laptop saß und eifrig tippte, sah so aus, als sei sie zusammen mit der Einrichtung geliefert worden. Sie trug eine randlose Brille vor den grünsten Augen, die ich je gesehen hatte, das kohlpechrabenschwarze Haar war so geschnitten, dass es eng am Kopf anlag und das hagere, elegante Gesicht sowie den anmutig schlanken Hals betonte. Ms. Derek trug einen dunklen Seidenblazer zum passenden Rock und weißer Bluse, und ihre langen Beine steckten in Schuhen, die bestimmt mehr gekostet hatten als die meisten Leute monatlich für die Tilgung ihres Wohnungsbaukredits hinblättern. Schmuck jedoch suchte man vergebens: Sie trug weder Ringe noch Ohrringe oder eine Kette. In ihrer Haltung lag etwas Kaltes, sehr Reserviertes, und ihre Finger bearbeiteten die Tastatur des Laptops mit dem schnellen, entschiedenen Tempo eines Trommlers einer Militärband.
Volle zwei Minuten tippte sie schweigend weiter, wobei sie sich offenbar voll und ganz auf diese Arbeit konzentrieren musste. Wahrscheinlich wollte sie es Vince heimzahlen, dass er einfach so in ihren wohlgeordneten Tag eingedrungen war.
„Wenn Sie glauben, ich lasse mich beschwätzen und stelle Sie wieder ein, Mr. Graver, dann irren Sie sich“, sagte sie schließlich, ohne aufzuschauen. „Was gibt es denn angeblich so Dringendes?“
Vince hatte also bereits gekündigt. Der Junge ließ wirklich nichts anbrennen.
Gut – ich hatte es hier mit einer Frau zu tun, die es gewohnt war, dass man sie ernst nahm. Wie sollte ich vorgehen? Nach kurzem Nachdenken beschloss ich, es ihr erst einmal mit gleicher Münze heimzuzahlen und sie ein bisschen zu ärgern.
Typisch für mich, finden Sie? Schockierend? Aber immer!
Ich stand einfach nur da und behandelte sie, wie sie mich behandelt hatte: Ich schwieg. Bis Evelyn Derek es nicht mehr aushielt und mit einem verächtlichen Schnauben einen kalten, durch und durch missbilligenden Blick auf mich richtete.
Da machte ich den Mund auf. „Hallo, Süße.“
Eins musste ich der
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