Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
einem anderen Menschen in die Augen sahen, schauten wir in sein Innerstes, bekamen wir eine Vorstellung vom Kern seines Wesens. Obwohl diese Erfahrung für jeden von uns ein wenig anders war, lief es im Grunde immer auf dasselbe hinaus: Einem anderen Menschen in die Augen zu sehen verschaffte uns einen Einblick in das, was seinen Charakter ausmachte.
Evelyn Dereks tiefgrüne Augen schienen immer größer zu werden, und plötzlich fand ich mich in einem Zimmer wieder, das mit dem Büro der Anwältin Derek fast identisch zu sein schien. Auch hier eine herrliche, aber sehr minimalistische Möblierung. Ms. Derek schien nicht zu den Menschen zu gehören, die ihre Seelen über Gebühr mit Sorgen und Erinnerungen belasteten, wie sie sich doch im Laufe eines Lebens unweigerlich ansammelten. Sie hatte ihr Leben ihrem Intellekt gewidmet, der Ordnung und Disziplin ihrer Gedanken. Für persönliche Verwicklungen war da kaum Raum geblieben, sie hatte sie sich nicht gestattet.
Aber noch während ich das Zimmer betrachtete, tauchte Ms. Derek selbst auf, und das, was sie anhatte, ließ mich zusammenzucken. Ich hatte erwartet, sie im gepflegten Kostümchen zu sehen, wie sie es bei der Arbeit trug, andernfalls vielleicht noch in den Jeans und T-Shirts ihrer Studentenzeit. Stattdessen ...
... trug sie sehr teure, sehr schöne, sehr minimalistische schwarze Unterwäsche. Strümpfe, Strapse, Höschen, BH, alles in Schwarz, und sie trug diese Sachen, wenn ich so sagen darf, sehr gut. Sie kniete auf dem Boden, die Knie auseinander gedrückt, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. Sie sah in meine Richtung, mit weit geöffneten Lippen, ihr Atem ging fieberhaft und stoßweise. Ich veränderte meinen Blickwinkel leicht, als ginge ich um die Frau herum. Ihre grünen Augen folgten mir mit weit geöffneten Pupillen, die Hüften zuckten leicht, begierig.
Die Hände waren ihr auf dem Rücken mit einer langen, schmalen Schleife aus weißer Seide gefesselt.
Als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, ließ ich meinen Blick dorthin huschen und sah gerade noch, wie eine schlanke, feminine Gestalt in den Fluren von Evelyn Dereks Erinnerung verschwand. Ich bekam kaum mehr als einen Hauch blasser Haut und das Schimmern silberner Augen zu sehen.
Verdammter Mist.
Ich hatte richtig getippt, jemand hatte Ms. Dereks Gedanken gefesselt und diese Bande mit ihrem natürlichen sexuellen Begehren verknüpft, um ihnen Permanenz und Stärke zu verleihen. Die angewandte Methode sowie der kurze Blick auf den Eindringling, den ich hatte erhaschen können, die Erinnerungsbruchstücke, die es geschafft hatten, in Evelyns Gedanken zu verbleiben, lieferten mir eindeutige Hinweise auf die Verantwortliche.
Eine Vampirin des Weißen Hofes.
Dann war da ein Gefühl, als reiße jemand an mir. Im nächsten Augenblick kniete ich über Evelyn, die mit weit aufgerissenen Augen zu mir aufsah. In ihrem Gesicht spiegelten sich Todesangst und Respekt.
Auch das gehörte zum Seelenblick: Wem man in die Seele sah, der durfte sich revanchieren und erfuhr ebenso viel von einem wie man selbst von ihm. Ich hatte noch nie erlebt, dass mir jemand in die Seele gesehen hatte, ohne hinterher ein wenig erschüttert zu wirken.
„Wer sind Sie?“, wisperte Evelyn.
„Harry Dresden.“
„Sie ist vor Ihnen weggelaufen.“ Evelyn klang benommen, in ihren Augen sammelten sich Tränen. „Was geschieht hier mit mir?“
Magie, die in die Gedanken eines anderen Menschen eindrang, war so schwarz, wie man es sich nur vorstellen konnte und stellte somit einen direkten Verstoß gegen die Gesetze der Magie dar, für deren Einhaltung die Wächter einstanden und sorgten. Aber wie bei jeder Gesetzgebung gab es auch hier Grauzonen, allgemein akzeptierte Sitten und Gebräuche, die regelten, was in der Praxis erlaubt und was streng verboten war.
Viel konnte ich nicht für Evelyn tun. Um den in ihrem Kopf angerichteten Schaden wieder gutzumachen, hätte es einer leichteren und geschickteren Hand als der meinen bedurft. Falls man einen solchen Schaden überhaupt rückgängig machen konnte. Aber ein bisschen graue Magie durfte ich hier zur Linderung und Hilfe schon einsetzten, das erlaubte sogar der Weiße Rat, wenn es sich um Traumata von den Ausmaßen handelte, wie Evelyn eins erlitten hatte.
So sachte es ging, rief ich meinen Willen herbei, streckte die rechte Hand aus und fuhr Evelyn mit den Fingerspitzen sanft über die Augen. Als sie sich schlossen, fuhr ich mit der Handfläche an
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