Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
lange Sicht gesehen von solchen Verletzungen besser erholte als andere Menschen. Sie sah nicht mehr aus wie ein Spezialeffekt in einem Horrorfilm, aber der Anblick der alten Narben, die sich über die Handfläche und die Finger zogen, konnte normalen Menschen immer noch einen ganz schönen Schrecken einjagen.
„Nein, warten Sie“, quiekte Evelyn. Sie rutschte auf dem Hinterteil immer weiter von mir weg, presste den Rücken an die Wand und hob die Hände. „Bitte nicht!“
„Sie haben Ihrem Kunden beim Versuch geholfen, Menschen zu töten, Evelyn. Sagen Sie mir, wer es ist.“
Sie riss die Augen noch weiter auf. „Was? Nein! Ich wusste doch nicht, dass jemandem etwas zustößt!“
Ich rückte näher an sie heran. „Reden Sie!“, zischte ich.
„Schon gut, schon gut“, stotterte sie. „Sie ...“
Aber dann verstummte sie urplötzlich, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken.
Ich lockerte meinen einschüchternden Würgegriff ein bisschen. „Sagen Sie es mir“, wiederholte ich, wesentlich ruhiger.
Evelyn Derek schüttelte den Kopf. All die Bedenken, die ich vor Kurzem noch in ihrem Gesicht hatte bewundern dürfen, waren wie weggewischt. Angst und Verwirrung beherrschten ihre Züge. Sie fing an zu beben. Mehrfach sah ich sie den Mund öffnen, aber es kamen nur leise, halb erstickte Laute heraus. Ihr Blick wurde glasig, flackerte haltlos im Zimmer umher wie bei einem Tier, das in einer Falle saß und verzweifelt nach einem Ausweg suchte.
Gut – das war jetzt nicht mehr normal. Jemand wie Evelyn Derek mochte in Panik geraten, mochte sich in die Ecke drängen lassen, kroch vielleicht auch vor einem auf dem Boden, aber dass sie keine Worte mehr fanden, kam bei solchen Leuten nicht vor.
„Mist!“, murmelte ich. „Ich hasse diese Scheiße!“
Seufzend ging ich um den Tisch herum und stand jetzt direkt neben der Anwältin, die sich ängstlich an die Wand gekauert hatte. „Verdammt, wenn ich gewusst hätte, dass jemand Sie ...“ Aber sie hörte mir schon gar nicht mehr zu, und stattdessen fing sie doch tatsächlich auch noch an zu weinen.
Okay – das war eine von ungefähr tausend möglichen Reaktionen, wenn jemandem aufgrund eines übersinnlichen Verbots der freie Wille geraubt worden war. Ich hatte gerade eine Situation heraufbeschworen, in der jede Faser von Evelyn Dereks logisch denkendem, rationalem Verstand total dafür war, mir zu erzählen, wer sie beauftragt hatte. Auch ihre Emotionen waren mit der Entscheidung ihres Kopfes vollauf einverstanden.
Nur handelte ihr Intellekt nicht mehr eigenständig, jemand war in ihren Kopf eingedrungen, darauf wäre ich jede Wette eingegangen. Jemand hatte dort etwas hinterlassen, und dieses Etwas verhinderte nun, dass Ms. Derek über ihren Klienten sprach. Vielleicht erinnerte sie sich sogar nicht einmal mehr bewusst daran, wer sie beauftragt hatte – obwohl sie sehr wohl wusste, dass sie kaum ohne Grund einen Detektiv einstellen würde, um jemanden zu beschatten.
Generell herrschte ja die Meinung, solche offensichtlichen logischen Widersprüche könnten nicht lange bestehen, der Verstand des Menschen würde sich irgendwann von den Fesseln losreißen, die man ihm angelegt hatte. Doch leider war das menschliche Hirn nicht gerade ein Hort der Logik und Folgerichtigkeit. Wenn man jemanden vor die Wahl stellte, sich einer grässlichen oder furchteinflößenden Wahrheit zu stellen oder so zu tun, als sei sie nicht vorhanden und alles sei normal, entschieden sich die meisten Menschen dafür, die Wahrheit zu ignorieren und den ganz pragmatischen Weg des Leugnens zu gehen. Weil er für sie Frieden und Normalität bedeutete. Ein solches Verhalten macht einen nicht automatisch zu einem starken oder schwachen, guten oder schlechten Menschen, es war schlichtweg menschlich.
Es lag einfach in unserer Natur, den hässlicheren Wahrheiten in unserem Leben aus dem Weg zu gehen und es gibt jede Menge Ablenkungsmanöver.
„Evelyn Derek!“, befahl ich mit fester Stimme. „Sieh mich an.“
Sie drückte sich zitternd nur noch fester an die Wand und schüttelte den Kopf.
Ich kniete mich vor ihr auf den Boden, streckte die Hand aus, berührte sie am Kinn und hob ihr Gesicht. „Sieh mich an.“
Folgsam richteten sich die dunkelgrünen Augen auf mein Gesicht. Ich hielt ihren Blick für die Dauer eines langen Atemzugs fest, womit der Seelenblick begann.
Wenn die Augen unsere Fenster zur Seele waren, dann musste man Magier als Voyeure bezeichnen, denn wenn wir Magier
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