Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
Voldemort, dass Harry niemand anderen mehr für sich sterben lassen würde, nun, da er entdeckt hatte, dass es in seiner Macht stand, es zu beenden. Die Bilder von Fred, Lupin und Tonks, tot in der Großen Halle liegend, drängten sich gewaltsam vor sein inneres Auge zurück, und für kurze Zeit verschlug es ihm den Atem: Der Tod war ungeduldig …
Aber Dumbledore hatte ihn überschätzt. Er war gescheitert: Die Schlange lebte immer noch. Ein Horkrux blieb, der Voldemort an die Erde band, selbst nachdem Harry getötet worden war. Gewiss, das würde die Aufgabe für jemand anderen leichter machen. Er fragte sich, wer es tun würde … Ron und Hermine würden natürlich wissen, was getan werden musste … das war vermutlich der Grund, weshalb Dumbledore gewollt hatte, dass er sich zwei anderen anvertraute … denn wenn er seiner wahren Bestimmung ein wenig zu früh nachkommen sollte, konnten sie weitermachen …
Wie Regen gegen ein kaltes Fenster prasselten diese Gedanken auf die harte Oberfläche der unumstößlichen Wahrheit, die lautete, dass er sterben musste. Ich muss sterben . Es muss enden.
Ron und Hermine schienen weit weg, in einem fernen Land; ihm war, als hätte er sich vor langer Zeit von ihnen getrennt. Es würde keine Abschiedsworte geben und keine Erklärungen, dazu war er entschlossen. Dies war eine Reise, die sie nicht gemeinsam antreten konnten, und die Versuche, die sie unternehmen würden, um ihn aufzuhalten, würden wertvolle Zeit verschwenden. Er blickte hinab auf die lädierte goldene Uhr, die er zu seinem siebzehnten Geburtstag bekommen hatte. Fast die Hälfte der Stunde, die Voldemort für seine Auslieferung gewährt hatte, war vergangen.
Er stand auf. Sein Herz sprang gegen seine Rippen wie ein verzweifelter Vogel. Vielleicht wusste es, dass es nur noch wenig Zeit hatte, vielleicht war es entschlossen, vor dem Ende noch die Schläge eines ganzen Lebens zu vollbringen. Ohne einen Blick zurück machte er die Bürotür zu.
Das Schloss war leer. Er kam sich vor wie ein Gespenst, während er allein hindurchschritt, als ob er bereits tot wäre. Die Leute aus den Porträts waren immer noch nicht in ihren Rahmen zurück; im ganzen Schloss herrschte unheimliche Stille, als hätte sich all sein verbliebener Lebenssaft in der Großen Halle gesammelt, wo sich die Toten und die Trauernden drängten.
Harry zog den Tarnumhang über und stieg die Stockwerke hinab, und schließlich über die Marmortreppe hinunter in die Eingangshalle. Vielleicht hoffte ein winziger Teil von ihm, gespürt zu werden, gesehen zu werden, aufgehalten zu werden, doch der Tarnumhang war wie immer undurchdringlich, perfekt, und er gelangte ohne weiteres zum Portal.
Dann stieß Neville beinahe mit ihm zusammen. Er war einer von zweien, die eine Leiche vom Gelände hereintrugen. Harry blickte hinab und verspürte einen weiteren dumpfen Schlag in den Magen: Colin Creevey, obgleich minderjährig, musste sich zurückgeschlichen haben, genau wie Malfoy, Crabbe und Goyle. Im Tod war er winzig.
»Weißt du was? Ich kann ihn allein tragen, Neville«, sagte Oliver Wood, hob Colin quer über seine Schulter und trug ihn in die Große Halle.
Neville lehnte sich einen Moment lang gegen den Türrahmen und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er sah aus wie ein alter Mann. Dann ging er wieder die Treppe hinunter in die Dunkelheit, um weitere Tote zu bergen.
Harry blickte kurz zurück zum Eingang der Großen Halle. Leute gingen umher, versuchten sich gegenseitig zu trösten, tranken etwas, knieten neben den Toten, doch er konnte niemanden von denen sehen, die er liebte, keine Spur von Hermine, Ron, Ginny oder einem der anderen Weasleys, keine Luna. Er hatte das Gefühl, dass er all die Zeit, die ihm noch blieb, für nur einen einzigen letzten Blick auf sie hingegeben hätte; aber hätte er dann überhaupt die Kraft gehabt, seinen Blick abzuwenden? Es war besser so, wie es war.
Er ging die Treppe hinunter und hinaus in die Dunkelheit. Es war fast vier Uhr morgens, und die tödliche Stille über dem Gelände fühlte sich an, als würden sie alle den Atem anhalten und abwarten, um zu sehen, ob er tun konnte, was er tun musste.
Harry trat auf Neville zu, der sich über eine weitere Leiche beugte.
»Neville.«
»Mensch, Harry, du hast mich zu Tode erschreckt!«
Harry hatte den Tarnumhang heruntergezogen: Die Idee war ihm urplötzlich gekommen, dem Wunsch entsprungen, ganz sicherzugehen.
»Wo willst du denn hin, alleine?«,
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