Harter Schnitt
dass sie immer zu ihm zurückkam, wenn es ihr schlechtging. Er wusste nicht, wann sie auftauchen würde, ob morgen oder nächste Woche, aber er wusste, dass er irgendwann in nächster Zeit von der Arbeit nach Hause kommen und Angie auf seiner Couch finden würde, wo sie seinen Pudding aß und abfällige Bemerkungen über seinen Hund machte.
Das war der Grund, warum Will am Abend zuvor zu Sara gegangen war. Er versteckte sich vor Angie. Er kämpfte gegen das Unvermeidliche an. Und wenn er ehrlich war, hatte er sich auch danach gesehnt, Sara wiederzusehen. Dass sie ihm seine Ausrede, sein Haus sei ein Chaos, abgekauft hatte, brachte ihn auf den Gedanken, dass vielleicht auch sie ihn bei sich haben wollte. Als Kind hatte Will sich beigebracht, nichts zu wollen, was er nicht haben konnte– die neuesten Spielsachen, Schuhe, die tatsächlich passten, selbst gekochte Mahlzeiten, die nicht aus einer Dose kamen. Seine Fähigkeit zur Selbstverleugnung verschwand, sobald es um Sara Linton ging. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie ihre Hand auf seiner Schulter sich angefühlt hatte, als sie gestern auf der Straße gestanden hatten. Ihr Daumen hatte seinen Hals gestreichelt. Sie hatte sich auf Zehenspitzen gestellt, damit sie auf gleicher Höhe waren, und einen Augenblick lang hatte er gedacht, sie würde ihn küssen.
» O Gott«, stöhnte Will. Er erinnerte sich an das Gemetzel in Evelyn Mitchells Haus, an das Blut und die Gehirnmasse, die überall in der Küche und Wäschekammer verspritzt waren. Und dann versuchte er, seinen Kopf völlig leer zu machen, weil er ziemlich sicher war, dass an Sex denken und sich dann Gewaltszenen vorstellen die Mischung war, die Serientäter hervorbrachte.
Er hörte, wie im SUV der Rückwärtsgang eingelegt wurde. Amanda ließ das Fenster herunter. Will stand auf.
Sie sagte: » Das war eine Quelle im APD . Wie’s aussieht, ist ihr B-negativer vor dem Müllcontainer am Grady aufgetaucht. Bewusstlos, kaum atmend. In einer der Mülltüten fand man seine Brieftasche. Marcellus Benedict Estevez. Arbeitslos. Wohnt bei seiner Großmutter.«
Will fragte sich, warum Sara ihn nicht deswegen angerufen hatte. Vielleicht hatte sie die Klinik bereits verlassen. Vielleicht war es aber auch nicht ihre Aufgabe, ihn auf dem Laufenden zu halten. » Hat Estevez irgendwas gesagt?«
» Er starb vor einer halben Stunde. Nach dem hier fahren wir im Krankenhaus vorbei.«
Da der Kerl bereits tot war, hielt Will das für eine sinnlose Fahrt. » Hatte er irgendwas bei sich?«
» Nein. Steigen Sie ein.«
» Warum sind wir…«
» Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Gehen wir’s an.«
Will stieg in den SUV . » Wurde bestätigt, dass Estevez’ Blutgruppe B-negativ ist?«
Sie stieg aufs Gaspedal. » Ja. Und seine Fingerabdrücke sind eindeutig als eine der acht in Evelyns Haus identifiziert.«
Schon wieder bekam er irgendetwas nicht mit. » Das war aber eine lange Unterhaltung für so wenige Informationen.«
Dieses eine Mal zeigte sie sich kooperativ. » Wir haben einen Rückruf in Bezug auf Chuck Finn. Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie gestern Abend mit seinem Bewährungshelfer telefoniert haben?«
» Schätze, ich war kleinkariert.«
» Mir gegenüber auf jeden Fall. Der Bewährungshelfer hat Chuck heute Morgen kurzfristig kontrolliert. Er ist seit zwei Tagen verschwunden.«
» Moment mal.« Will drehte sich ihr zu. » Gestern Abend hat Chucks Bewährungshelfer mir noch gesagt, dass er ihn ständig im Blick hat. Er meinte, Chuck hätte noch nie einen Meldetermin verpasst.«
» Ich bin mir sicher, das Bewährungsbüro in Tennessee ist ebenso überlastet und unterbesetzt wie das unsere. Wenigstens hatten die den Mumm, heute Vormittag mit der Wahrheit herauszurücken.« Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. » Chuck Finn hat sich vor zwei Tagen selbst aus der Therapie entlassen.«
» Therapie?«
» Er war in Healing Winds. Er ist seit drei Monaten clean.«
Will fühlte sich ein wenig entlastet.
» In Healing Winds war auch Hironobu Kwon in Therapie. Sie waren zur selben Zeit dort.«
Will schwieg einen Augenblick. » Wann haben Sie das alles herausgefunden?«
» Jetzt gerade, Will. Nicht schmollen. Ich kenne ein altes Mädchen, das im Archiv im Drogengericht arbeitet.« Offensichtlich kannte Amanda so ziemlich überall ein altes Mädchen. » Kwon wurde für seine erste Straftat nach Hope Hall geschickt.« Die stationäre Therapieeinrichtung des Drogengerichts. » Der
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