Harter Schnitt
Kofferraum gelegen. Es gab keinen Grund für eine Polizistin, vor allem für eine pensionierte, mit dieser Art von bösen Jungs etwas zu tun zu haben, außer man war selbst in etwas Schmutziges verwickelt.
Will schaute auf sein Handy hinunter. Dreizehn Uhr. Er sollte ins Einstellungs-Menü gehen und herausfinden, wie man das Display auf die normale Zeitanzeige umschaltete, aber im Augenblick hatte Will nicht die Geduld dafür. Stattdessen blätterte er zu Saras Telefonnummer, die drei Achten in der Ziffernfolge hatte. Er hatte sie in den letzten Monaten viel zu oft angestarrt, und es wunderte ihn beinahe, dass sie sich nicht in seine Netzhaut eingebrannt hatte.
Wenn man das unglückliche Missverständnis mit der Lesbe, die auf der anderen Straßenseite wohnte, nicht mitzählte, hatte Will noch nie ein richtiges Rendezvous gehabt. Mit Angie war er seit seinem achten Lebensjahr zusammen. Irgendwann einmal hatte es Leidenschaft gegeben und für eine kurze Zeit etwas, das sich fast wie Liebe anfühlte, aber er konnte sich an keinen Zeitpunkt in seinem Leben erinnern, zu dem er glücklich mit ihr gewesen war. Inzwischen graute ihm davor, wenn sie vor seiner Tür auftauchte. Er empfand eine enorme Erleichterung, wenn sie verschwand. Schwach wurde er allerdings immer noch in diesem Dazwischen, diesen seltenen Augenblicken des Friedens, wenn sie ihm einen kurzen Blick darauf gewährte, wie ein normales Leben aussehen könnte. Dann aßen sie zusammen und gingen einkaufen und arbeiteten im Garten– oder Will arbeitete, und Angie schaute zu–, und abends gingen sie dann ins Bett, und er lag mit einem Lächeln auf dem Gesicht da, weil das ein Leben war, wie der Rest der Welt es führte.
Und am nächsten Morgen wachte er auf, und sie war verschwunden.
Sie waren einander zu nahe. Das war das Problem. Sie hatten zu viel gemeinsam durchgestanden, zu viele Entsetzlichkeiten gesehen, zu viel Angst und Abscheu und Mitleid miteinander geteilt, um sich gegenseitig als etwas anderes zu betrachten denn als Opfer. Wills Körper war wie ein Denkmal dieses Elends: die Brandnarben, die vernähten Risse, die Grausamkeiten, die er hatte ertragen müssen. Jahrelang hatte er mehr von Angie gewollt, aber in letzter Zeit hatte Will schweren Herzens erkennen müssen, dass sie nicht mehr geben konnte.
Sie würde sich nicht ändern. Er wusste das schon, als sie schließlich geheiratet hatten, was nicht durch sorgfältige Planung zustande gekommen war, sondern weil Will mit Angie gewettet hatte, dass sie es nie machen würde. Von dieser Wette abgesehen, würde Angie das Zusammensein mit Will nie als etwas anderes betrachten als einen sicheren Hafen, im besten Fall, und als ein Opfer, im schlimmsten Fall. Es gab einen Grund, warum sie ihn nie berührte, außer sie wollte etwas. Und das war der Grund, warum er nicht versuchte, sie anzurufen, wenn sie verschwand.
Er steckte den Daumen in seinen Ärmel und ertastete den Anfang der langen Narbe, die sich seinen Arm hochzog. Sie war dicker als in seiner Erinnerung. Die Haut war immer noch berührungsempfindlich.
Will zog die Hand zurück. Angie war zusammengezuckt, als sie das letzte Mal unabsichtlich seinen nackten Arm gestreift hatte. Ihre Reaktionen auf ihn waren immer intensiv, nie halbe Sachen. Sie probierte gern aus, wie weit sie ihn treiben konnte. Das war ihr Lieblingssport: Wie schlimm musste sie sich verhalten, bis Will sie schließlich verließ, wie es jeder andere in ihrem Leben getan hatte.
Sehr oft hatten sie knapp vor diesem Abgrund gestanden, aber irgendwie schaffte sie es immer, ihn in der letzten Sekunde zurückzureißen. Auch jetzt spürte Will diese Zugkraft. Er hatte Angie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr gesehen. Deirdre Polaski war Junkie und Prostituierte gewesen, die sich selbst mit einer Überdosis ins vegetative Koma geschickt hatte, als Angie elf Jahre alt war. Siebenundzwanzig Jahre hatte ihr Körper durchgehalten, bevor er schließlich aufgab. Seit dem Begräbnis waren vier Monate vergangen. Nicht viel nach ihrer Zeitrechnung– Angie war schon einmal für ein ganzes Jahr verschwunden–, aber Will spürte etwas in seinem Rückgrat, das ihm sagte, dass diesmal etwas nicht stimmte. Sie war in Schwierigkeiten, oder sie war verletzt, oder sie war verärgert. Sein Körper wusste das, so wie er wusste, dass er atmen musste.
Sie waren schon immer verbunden gewesen, auch damals als Kinder bereits. Vor allem als Kinder. Und wenn Will eines über seine Frau wusste, dann,
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