Harter Schnitt
Morgenmantel enger um sich, als sie die Tür öffnete. Anstatt ihres Nachbarn sah sie Faith Mitchell.
» Tut mir leid, so hereinzuplatzen.« Faith betrat uneingeladen die Wohnung. Sie trug eine unförmige, marineblaue Jacke, die Kapuze auf dem Kopf. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckte ihr halbes Gesicht. Jeans und Chuck-Taylor-Turnschuhe vervollständigten das Ensemble. Damit sah sie so aus, wie sich ein braves Mütterchen einen Einbrecher vorstellte.
Sara konnte nur fragen: » Wie sind Sie reingekommen?«
» Ich habe Ihrem Nachbarn gesagt, dass ich Polizistin bin, und er hat mich hereingelassen.«
» Na klasse«, murmelte Sara und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis jeder im Gebäude glaubte, dass sie verhaftet worden war. » Was ist los?«
Faith nahm die Sonnenbrille ab. Fünf kleine Quetschungen sprenkelten ihr Gesicht. » Sie müssen Will für mich anrufen.« Sie ging zum Fenster und schaute auf den Parkplatz hinunter. » Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich kann es nicht allein tun. Ich glaube, ich bin dazu nicht fähig.« Sie beschirmte die Augen mit der Hand, obwohl die Sonne noch gar nicht aufgegangen war. » Sie wissen nicht, dass ich hier bin. Ginger ist eingeschlafen. Taylor ist gestern Abend gefahren. Ich habe mich hinausgeschlichen. Durch den Hinterhof. Ich habe Roz Levys Auto genommen. Ich weiß, dass sie meine Telefone angezapft haben. Sie überwachen mich und dürfen nicht wissen, dass ich das tue. Sie dürfen nicht wissen, dass ich mit irgendjemandem gesprochen habe.«
Sie sah aus wie ein Paradebeispiel für Unterzucker. » Warum setzen Sie sich nicht?«
Faith schaute weiter auf den Parkplatz hinunter. » Ich habe meine Kinder weggeschickt. Sie sind bei meinem Bruder. Der hat noch nie eine Windel gewechselt. Das ist zu viel Verantwortung für Jeremy.«
» Okay. Reden wir darüber. Kommen Sie und setzen Sie sich zu mir.«
» Ich muss sie zurückholen, Sara. Mir egal, was es kostet. Was ich tun muss.«
Ihre Mutter. Will hatte Sara von seiner Fahrt zum Coastal State Prison und von seinem Gespräch mit Roger Ling erzählt. » Faith, setzen Sie sich.«
» Ich kann mich nicht hinsetzen, sonst komme ich nicht mehr hoch. Ich brauche Will. Können Sie ihn bitte einfach anrufen?«
» Ich hole ihn für Sie. Ich verspreche es, aber Sie müssen sich setzen.« Sara führte sie zu dem Hocker vor der Küchentheke. » Haben Sie gefrühstückt?«
Sie schüttelte den Kopf. » Ich bringe nichts runter vor Aufregung.«
» Wie sieht Ihr Blutzuckerspiegel aus?«
Sie hörte auf, den Kopf zu schütteln. Ihre schuldbewusste Miene war Antwort genug.
Mit fester Stimme sagte Sara: » Faith, ich werde rein gar nichts tun, bevor wir Ihre Werte in Ordnung gebracht haben. Haben Sie mich verstanden.«
Faith widersprach nicht, vielleicht, weil ein Teil von ihr wusste, dass sie Hilfe brauchte. Sie tastete ihre Jackentaschen ab und zog eine Handvoll Bonbons heraus, die sie auf die Theke warf. Dann kamen eine große Waffe, ihre Brieftasche, ein Schlüsselbund mit einem goldenen, kursiven L am Ring und schließlich ihr Messgerät zutage.
Sara klickte den Speicher des Geräts an und kontrollierte die Daten. Offensichtlich hatte Faith in den letzten beiden Tagen Bonbon-Roulette gespielt. Es war ein unter Diabetikern verbreiteter Trick: Man bekämpfte Unterzucker-Zustände mit Bonbons und verdrängte die Ausreißer nach oben einfach. Es war eine gute Möglichkeit, um schwierige Zeiten durchzustehen, aber ein noch besserer Weg ins Koma. » Eigentlich sollte ich Sie sofort ins Krankenhaus bringen.« Sara umfasste das Messgerät fester. » Haben Sie Ihr Insulin dabei?«
Faith steckte die Hände noch einmal in die Taschen und legte vier Wegwerf-Insulin-Pens auf die Theke. Sie fing an zu plappern. » Ich habe sie mir heute Morgen in der Apotheke besorgt. Ich weiß nicht, wie viel ich nehmen soll. Sie haben es mir gezeigt, aber ich habe solche noch nie benutzt, und sie sind so teuer, dass ich keine Fehler machen wollte. Mein Keton ist okay. Ich habe gestern Abend und heute Morgen einen Teststreifen benutzt. Wahrscheinlich sollte ich mir eine Pumpe besorgen.«
» Eine Insulinpumpe wäre keine schlechte Idee.« Sara steckte einen Teststreifen in das Messgerät. » Haben Sie gestern Abend etwas gegessen?«
» In gewisser Weise.«
» Ich nehme das als Nein«, murmelte Sara, » was ist mit Snacks? Irgendwas?«
Faith stützte den Kopf in die Hände. » Jetzt, da Jeremy und Emma nicht mehr da sind, kann
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