Harter Schnitt
stromführende Drähte an die Haut drückt.« Will trank das Glas in einem Zug leer. » Schau mich an.« Er tat es nicht, sie redete trotzdem weiter. » Du bist für sie ein Projekt. Du tust ihr leid. Will, die kleine Waise. Du bist Helen Keller, und sie ist diese Schlampe, wie immer sie hieß, die ihr das Lesen beibrachte.« Sie packte ihn am Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. Will schaute trotzdem weg. » Sie will dich heilen. Und wenn sie dann keine Lust mehr hat, dich zu reparieren, wenn sie merkt, dass es keine magische Pille gibt, die das Dumme einfach wegmacht, wird sie dich wieder in den Müll werfen, aus dem sie dich geklaubt hat.«
In ihm zerbrach etwas. Seine Entschlossenheit. Seine Kraft. Seine dünnen Wände. » Und dann was?«, schrie er. » Dann komme ich zu dir zurückgekrochen?«
» Das tust du immer.«
» Ich wäre lieber allein. Ich würde lieber allein in einem Loch verrecken, als von dir abhängig zu sein.«
Sie drehte ihm den Rücken zu. Will stellte das Glas ins Spülbecken, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Angie weinte nicht viel, zumindest nicht ernsthaft. Jedes Kind, mit dem Will aufgewachsen war, hatte eine andere Überlebensstrategie entwickelt. Jungs benutzten ihre Fäuste. Mädchen wurden bulimisch. Einige, wie Angie, benutzten Sex, und wenn Sex nicht funktionierte, benutzten sie Tränen, und wenn die Tränen nicht funktionierten, fanden sie etwas anderes, um einem ins Herz zu stechen.
Als Angie sich umdrehte, hatte sie sich Wills Waffe in den Mund geschoben.
» Nein…«
Sie drückte ab. Er schloss die Augen, hob die Hände, um sich vor den Schädel- und Gehirnfragmenten zu schützen.
Aber nichts passierte.
Langsam ließ Will die Arme sinken und öffnete die Augen.
Die Waffe steckte noch in ihrem Mund. Leerer Schuss. Das Echo des klackenden Hahns stach wie eine Nadel in sein Trommelfell. Er sah das Magazin auf dem Tisch liegen. Die Kugel, die er immer in der Kammer hatte, lag daneben.
Wills Stimme zitterte. » Mach das nie…«
» Weiß sie über deinen Vater Bescheid, Will? Hast du ihr erzählt, was passiert ist?«
Er zitterte am ganzen Körper. » Mach das nie wieder.«
Sie legte die Waffe auf den Tisch. Dann nahm sie sein Gesicht zwischen beide Hände. » Du liebst mich, Will. Du weißt, dass du mich liebst. Du hast es gespürt, als ich abgedrückt habe. Du weißt, dass du ohne mich nicht leben kannst.«
Tränen traten ihm in die Augen.
» Wir sind keine ganzen Menschen, wenn wir nicht zusammen sind.« Sie streichelte ihm die Wangen, die Augenbrauen. » Weißt du das nicht? Hast du vergessen, was du für mich getan hast, Baby? Du warst bereit, dein Leben für mich aufzugeben. Für sie würdest du das nie tun. Du würdest dich für niemanden schneiden außer für mich.«
Er schob sie weg. Die Waffe lag noch auf dem Tisch. Das Magazin war kalt in seiner Hand. Er schob es in den Griff. Er zog den Schlitten zurück, um eine Patrone in die Kammer zu laden. Er hielt ihr die Waffe hin, die Mündung auf seine Brust gerichtet. » Los, erschieß mich.« Sie rührte sich nicht. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen. » Erschieß mich.«
» Stopp.« Sie hob die Hände. » Hör auf.«
» Erschieß mich«, wiederholte er. » Entweder du erschießt mich, oder du lässt mich in Ruhe.«
Sie nahm die Waffe, zerlegte sie und warf die Einzelteile auf die Anrichte. Als sie die Hände wieder freihatte, schlug sie ihm kräftig ins Gesicht. Dann noch einmal. Dann kamen die Fäuste. Will packte ihre Arme. Sie drehte sich um, wandte ihm den Rücken zu. Angie hasste es, festgehalten zu werden. Er drückte seinen Körper gegen ihren, schob sie gegen das Waschbecken. Sie wehrte sich heftig, schrie, kratzte ihn mit den Fingernägeln.
» Lass mich los.« Sie trat nach hinten aus, rammte ihm den Absatz auf den Fuß. » Hör auf!«
Will packte sie noch fester. Sie drückte sich an ihn. Die Frustration und der Zorn der letzten Tage schnurrten in einem Zentrum zusammen. Er spürte, wie sein Körper auf sie reagierte, sich nach Befriedigung sehnte. Sie schaffte es, sich umzudrehen. Ihre Hand wanderte in seinen Nacken, sie zog ihn zu sich, drückte ihre Lippen auf seine. Ihr Mund öffnete sich.
Will wich zurück. Wieder wollte sie die Arme um ihn legen, aber er wich weiter zurück. Er atmete so heftig, dass er nicht sprechen konnte. Das war ihre Chance. Wut. Angst. Gewalt. Nie Mitleid. Nie Freundlichkeit.
Er nahm Bettys Leine vom Haken. Der Hund tänzelte vor seinen Füßen. Wills
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