Harter Schnitt
auf der Stuhlunterseite gab es ein Indiz– möglicherweise ein wichtiges–, das der Mann übersehen hatte. Wie bei den meisten Dingen, die mit Amanda zu tun hatten, gab es einerseits die richtige Vorgehensweise und andererseits das, was sie ihm zu tun befahl. Jede Entscheidung zog Konsequenzen nach sich.
Auch Mittal schüttelte den Kopf, aber nur, weil Amanda Unsinn redete. » Dr. Wagner, wir haben jeden Zentimeter dieses Tatorts untersucht, und ich kann Ihnen sagen, wir haben keine anderen Gegenstände von Relevanz gefunden als die, die ich Ihnen bereits genannt habe.«
Will wusste sehr genau, dass sie nicht jeden Zentimeter untersucht hatten. Er fragte: » Hat irgendjemand den Malibu untersucht?«
Das lenkte Charlie von seinem ethischen Problem ab. Er runzelte die Stirn. Will hatte bei Faith’ Mini denselben Fehler gemacht. Sämtliche Gewalt hatte zwar im Haus stattgefunden, die Autos waren trotzdem Teil des Tatorts.
Amanda bewegte sich als Erste. Sie war bereits draußen im Carport und hatte die Fahrertür des Malibu geöffnet, bevor irgendjemand daran dachte, sie zu fragen, was sie sich dabei denke.
Mittal sagt: » Bitte, wir haben noch nicht…«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. » Haben Sie daran gedacht, in den Kofferraum zu schauen?«
Sein verblüfftes Schweigen reichte als Antwort. Amanda öffnete den Kofferraum. Will stand unter der Küchentür, sodass er einen etwas erhöhten Blickwinkel hatte. Im Kofferraum waren mehrere Einkaufstüten aus Plastik, der Inhalt plattgedrückt von der Leiche, die auf ihnen lag. Wie auch in der Küche war alles mit Blut bedeckt– es durchtränkte die Müslischachtel, tropfte von der Plastikumhüllung der Hamburgerbrötchen. Der Tote war ein großer, kräftiger Kerl. Sein Körper war in der Mitte fast zusammengeklappt, damit er in den Hohlraum passte. Ein klaffender Riss in seinem kahlen Schädel zeigte gesplitterte Knochen und Gehirnmasse. Seine Jeans waren zerknittert. Seine Hemdärmel waren aufgekrempelt. Auf dem Unterarm hatte er das Tattoo der Los Texicanos.
Evelyns Freund.
4 . Kapitel
D as Georgia Diagnostic and Classification Prison lag in Jackson, etwa eine Fahrstunde südlich von Atlanta. Normalerweise war das nur ein schneller Abstecher auf der I-75, aber der Atlanta Motor Speedway veranstaltete irgendein Show-Event, das den normalen Verkehr fast zum Erliegen brachte. Amanda ließ das ziemlich kalt, mit ruckartigen Lenkbewegungen fuhr sie immer wieder aufs Bankett, um langsame Wagenkolonnen zu überholen. Die Reifen des SUV rauschten über den Kies, der Autofahrer eigentlich davon abhalten sollte, die Fahrbahn zu verlassen. Wegen des Lärms und der Vibrationen musste Will gegen eine aufsteigende Bewegungsübelkeit ankämpfen.
Schließlich hatten sie den schlimmsten Verkehr hinter sich. In der Ausfahrt machte Amanda noch einen letzten, kurzen Abstecher aufs Bankett und riss den SUV dann wieder auf die Fahrbahn zurück. Die Reifen quietschten, die Karosserie schwankte. Will ließ das Fenster herunter, um mit ein wenig frischer Luft seinen Magen zu beruhigen. Der Wind riss so heftig an seinem Gesicht, dass seine Haut sich in Falten legte.
Amanda drückte auf den Knopf, um das Fenster wieder zu schließen, und warf ihm dabei einen Blick zu, mit dem sie sonst nur Dumme und Kinder bedachte. Sie fuhr weit über einhundertsechzig Stundenkilometer. Will hatte Glück gehabt, dass er nicht zum Fenster hinausgesaugt worden war.
Mit einem langen Seufzer schaute sie geradeaus auf die Straße. Eine Hand lag im Schoß, die andere hielt das Lenkrad fest umklammert. Sie trug ihr gewohntes Power-Kostüm: einen dunkelblauen Rock mit passendem Jackett und eine helle Bluse darunter. Ihre High Heels hatten exakt die Farbe ihres Kostüms. Die Haare waren ihr üblicher Helm aus Salz-und-Pfeffer-Grau. An den meisten Tagen schien Amanda mehr Energie zu haben als alle Männer in ihrem Team. Jetzt sah sie müde aus, und Will bemerkte, dass die Sorgenfalten um ihre Augen sich deutlicher abzeichneten.
Sie sagte: » Erzählen Sie mir von Spivey.«
Will versuchte, in seinem Kopf zurückzuschalten zu einem alten Fall gegen Captain Evelyn Mitchells Team. Boyd Spivey war der frühere Ermittlungsleiter des Drogendezernats gewesen, der jetzt seine Tage in der Todeszelle verbrachte. Will hatte nur ein Mal mit dem Mann sprechen können, danach hatten seine Anwälte ihm geraten, den Mund zu halten. » Ich kann mir gut vorstellen, dass er einen anderen mit bloßen Fäusten zu
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