Harter Schnitt
ist los mit dir? Ist was passiert?«
» Mir geht’s gut. Es ist nur…« Sie musste sich eine Ausrede überlegen. Sie tat das wirklich– sie war praktisch gezwungen, Amanda nicht zu sagen, dass die Entführer Kontakt aufgenommen hatten. Dass sie etwas von Evelyn unter Faith’ Kissen gelegt hatten. Dass sie viel zu viel über Jeremy wussten. Dass sie in ihrem Besteck gewühlt hatten. » Es ist noch sehr früh. Ich habe heute Nacht nicht gut geschlafen.«
» Du musst auf dich aufpassen. Die richtigen Sachen essen. So viel schlafen, wie du kannst. Viel Wasser trinken. Ich weiß, es ist schwer, aber du musst im Augenblick deine Kraft behalten.«
Faith spürte, wie ihr Temperament sich regte. Sie wusste nicht, ob sie im Augenblick mit ihrer Chefin oder mit Tante Mandy redete, aber beide konnten ihr den Buckel herunterrutschen. » Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.«
» Das höre ich sehr gerne, aber von meinem Standpunkt aus sieht das nicht so aus.«
» Hat sie was getan, Mandy? Ist Mom in Schwierigkeiten, weil sie…«
» Soll ich zu dir kommen?«
» Bist du denn nicht in Valdosta?«
Amanda verstummte. Faith hatte offensichtlich eine Grenze überschritten. Vielleicht war es aber einfach so, dass ihre Chefin so schlau war, daran zu denken, dass ihr Telefonat mitgeschnitten wurde. Faith war es im Augenblick egal. Sie starrte das gelbe Gummiband an und überlegte sich, ob sie den Verstand verlor. Wahrscheinlich war ihr Blutzucker zu niedrig. Sie sah verschwommen. Ihr Mund war trocken. Sie öffnete wieder den Kühlschrank und griff noch einmal nach dem Orangensaft. Der Karton war noch immer leer.
Amanda sagte: » Denk an deine Mutter. Sie würde wollen, dass du stark bist.«
Wenn sie wüsste, dass Faith wegen eines gelben Gummibands schier durchdrehte. Sie murmelte: » Mir geht’s gut.«
» Wir holen sie zurück und sorgen dafür, dass derjenige, der uns das alles angetan hat, dafür bezahlen muss. Das ist ein Versprechen.«
Faith öffnete den Mund, um zu sagen, dass ihr Vergeltung verdammt egal sei, aber Amanda hatte bereits aufgelegt.
Sie warf den Saftkarton in den Müll. Im Schrank lag eine Tüte mit Bonbons für den Notfall. Faith zog sie heraus, und Jolly Ranchers prasselten zu Boden. Sie schaute die Tüte an. Die Unterseite war aufgerissen worden.
Ginger war wieder da. Er bückte sich, um ihr beim Aufheben zu helfen. » Alles in Ordnung?«
» Ja.« Faith warf eine Handvoll Bonbons auf die Arbeitsfläche und verließ die Küche. Im Wohnzimmer legte sie den Lichtschalter um, aber nichts passierte. Faith probierte es ein paar Mal, immer mit demselben Resultat. Sie schaute sich die Birne in der Lampe an. Eine Umdrehung, und das Licht sprang an. Sie machte dasselbe mit der zweiten Lampe. Sie spürte die Hitze ihre Finger versengen, als der Strom floss.
Faith ließ sich schwer in den Sessel fallen. Sie wusste, dass sie etwas essen, den Zuckerspiegel messen und entsprechende Maßnahmen treffen musste. Ihr Gehirn funktionierte nicht richtig, bis sie alles korrekt eingestellt hatte. Aber jetzt, da sie saß, hatte sie nicht mehr die Kraft aufzustehen.
Die Couch stand ihr direkt gegenüber. Auf dem beigen Polster sah sie den roten Fleck, wo Jeremy vor fünfzehn Jahren Kool-Aid verschüttet hatte. Sie wusste, wenn sie das Polster umdrehte, würde sie einen blauen Fleck von einem Maui-Punch-Eis sehen, das er zwei Jahre später fallen lassen hatte. Wenn sie das Kissen umdrehte, auf dem sie saß, würde sie einen Riss sehen, den ein Stollen seiner Fußballschuhe verursacht hatte. Der Läufer auf dem Boden war durchgewetzt von ihren Wanderungen zwischen Wohnzimmer und Küche. Die Wände waren eierschalenfarben, seit Jeremy und sie in seinen Frühlingsferien im letzten Jahr sie so gestrichen hatten.
Faith dachte nun ernsthaft darüber nach, ob sie den Verstand verlor. Jeremy war zu alt für diese Spielchen, und Zeke hatte noch nie viel für psychologische Kriegsführung übriggehabt. Er würde sie eher zu Tode prügeln, als ihr ein paar Glühbirnen herausdrehen. Und abgesehen davon, war keiner von beiden in der Stimmung für derbe Scherze. Das konnte nicht nur Faith’ Blutzucker sein. Die Stifte, das Besteck, die Lampen– das waren kleine Dinge, die nur Faith auffallen würden. Dinge, bei denen jeder andere glauben würde, man sei verrückt, wenn man sie erzählte.
Sie schaute zur Decke hoch und ließ den Blick über die Wandregale hinter der Couch wandern. Bill Mitchell war ein Kitschsammler gewesen.
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