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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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Krankenblättern und etwas, das aussah wie ein uralter Bericht der Polizei von Atlanta. Sie wollte gar nicht genauer hinsehen, hoffte, dass ihr kein Wort und kein Satz ins Auge stachen.
    » Schauen Sie sich das an.«
    Sara schaute hoch. Eine völlig normale Reaktion. Die Frau hielt ein verblasstes Polaroid in der Hand. Es war die Großaufnahme eines Kindermunds. Ein kleines, silberfarbenes Lineal lag neben einem Riss über die gesamte Länge des Philtrums, der Kerbe, die von der Mitte der Oberlippe zur Nasenwurzel verläuft. Die Verletzung stammte nicht von einem Sturz oder Zusammenprall. Die Krafteinwirkung war so heftig gewesen, dass das Fleisch aufriss und die Zähne darunter sichtbar wurden. Dicke, schwarze Nähte hielten die Wunde zusammen. Die Haut war geschwollen und gerötet. Sara war eher daran gewöhnt, diese Art von Lederballnaht in einer Leichenhalle zu sehen, nicht im Gesicht eines Kindes.
    » Ich wette, der war in der Poly-Dingsda-Studie«, sagte die Frau. Sie zeigte ihrer Kollegin das Foto.
    » Polyglykolsäure.« Sie erklärte Sara: » Grady führte eine Pilotstudie mit verschiedenen Arten absorbierbarer Wundfäden durch, die an der Tech entwickelt wurden. Sieht aus, als wäre er einer der Kinder gewesen, die allergisch darauf reagierten. Armer kleiner Kerl.« Sie wandte sich wieder ihrer Tastatur zu. » Ich schätze, das war besser, als ihm Blutegel aufzusetzen.«
    Die andere Frau fragte Sara: » Alles okay, meine Liebe?«
    Sara fühlte sich, als müsste sie sich gleich übergeben. Sie richtete sich auf und verließ den Raum. Sie hörte nicht auf zu rennen, bis sie zwei Treppen hochgestürmt war und draußen stand, um tief die frische Luft einzuatmen.
    Sie ging vor der geschlossenen Tür auf und ab. Ihre Gefühle schnellten zwischen Wut und Scham hin und her. Er war doch nur ein Junge gewesen. Er war zur Behandlung eingeliefert worden, und sie hatten mit ihm experimentiert wie mit einem Tier. Bis heute hatte er wahrscheinlich keine Ahnung, was sie ihm angetan hatten. Sara wünschte sich inständig, sie wüsste es selbst nicht, doch es war nur die gerechte Strafe für ihr Schnüffeln. Sie hätte nie seine Akte verlangen dürfen. Aber sie hatte es getan, und jetzt bekam Sara dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf– sein schöner Mund zusammengezogen von einer Naht, die nicht einmal den medizinischen Mindestanforderungen entsprach.
    Das verblasste Polaroid würde bis zu ihrem Tod in ihrer Erinnerung eingebrannt bleiben. Sie hatte genau das bekommen, was sie verdiente.
    » Hey, du da.«
    Sara wirbelte herum. Eine junge Frau stand vor ihr. Sie war schmerzhaft dünn. Fettige blonde Haare hingen ihr bis zur Taille. Sie kratzte sich an frischen Einstichen in ihren Armen. » Bist du ’ne Ärztin?«
    Sara wurde wachsam. Im Umkreis des Krankenhauses lungerten viele Junkies herum. Einige von ihnen konnten gewalttätig werden. » Du solltest hineingehen, wenn du eine Behandlung brauchst.«
    » Es geht nicht um mich. Da drüben ist ein Kerl.« Sie deutete zu dem Müllcontainer in einer Ecke hinter dem Krankenhaus. Auch im hellen Tageslicht lag der Bereich im Schatten der hoch aufragenden Fassade. » Der liegt schon die ganze Nacht da. Ich glaube, er ist tot.«
    Sara bemühte sich um eine sachliche, ruhige Stimme. » Wir sollten hineingehen und darüber reden.«
    Wut blitzte in den Augen des Mädchens auf. » Hör mal, ich versuche nur, das Richtige zu tun. Komm mir bloß nicht so hochnäsig.«
    » Ich bin nicht…«
    » Ich hoffe, er steckt dich mit Aids an, du blöde Kuh.«
    » O Gott«, keuchte Sara und fragte sich, ob ihr Tag noch schlimmer werden konnte. Wie sie die Manieren der Leute vom Land vermisste, wo sogar Junkies sie » Ma’am« genannt hatten. Sie wollte wieder hineingehen, blieb dann aber stehen. Vielleicht hatte das Mädchen ja die Wahrheit gesagt.
    Sara ging zu dem Müllcontainer, aber nicht zu nahe heran, für den Fall, dass der Komplize des Mädchens sich dort versteckte. Der Müll war übers Wochenende nicht abgeholt worden. Schachteln und Plastiktüten quollen aus dem Container und lagen auf dem Boden verstreut. Sara machte noch einen Schritt darauf zu. Unter einem blauen Plastiksack lag jemand. Sie sah eine Hand. Ein tiefer Schnitt teilte die Handfläche. Sara ging noch einen Schritt und blieb dann stehen. Die Arbeit im Grady hatte sie übervorsichtig gemacht. Das konnte noch immer eine Falle sein. Anstatt zu der Person zu gehen, drehte sie sich um und lief zur Krankenwageneinfahrt, um Hilfe

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