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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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Sie hackten hektisch auf ihre Tastaturen ein und schauten kaum zu Sara hoch.
    Eine von ihnen fragte: » Kann ich Ihnen helfen?« Dabei blätterte sie eine Seite in der Akte um, die geöffnet vor ihr lag.
    Sara stand da und wusste eigentlich gar nicht so recht, was sie wollte. Sie erkannte, dass sie, seit sie in den Aufzug gestiegen war, irgendwie den Gedanken an das Archiv im Hinterkopf gehabt hatte. Sie steckte ihr iPhone wieder in die Manteltasche.
    » Worum geht’s denn, Darlin’?«, fragte die Frau. Jetzt starrten die beiden sie an.
    Sara zeigte ihren Krankenhausausweis. » Ich brauche eine Akte von neunzehn…« Sie rechnete schnell im Kopf nach. » Sechsundsiebzig, vielleicht?«
    Die Frau gab ihr Stift und Papier. » Schreiben Sie mir den Namen auf. Das macht es einfacher.«
    Noch während Sara Wills Namen schrieb, wusste sie, dass es falsch war, was sie hier tat, und nicht nur, weil sie nationale Datenschutzgesetze brach und eine sofortige Kündigung riskierte. Will war seit frühester Kindheit im Atlanta Children’s Home gewesen. Es hatte also keinen Familienarzt gegeben, der sich um seine Gesundheit kümmerte, sondern das Grady hatte sich um seine medizinischen Bedürfnisse gekümmert. Seine gesamte Kindheit war hier archiviert, und Sara nutzte ihren Krankenhausausweis, um Zugriff darauf zu nehmen.
    » Keinen zweiten Vornamen?«, fragte die Frau.
    Sara schüttelte den Kopf. Sie traute ihrer Stimme nicht.
    » Das dauert ein bisschen. Die Akte ist noch nicht im Computer, sonst hätten Sie sie auf Ihren Tablet ziehen können. Wir haben mit den Siebzigern noch kaum angefangen.« Sie war aufgestanden und durch die Tür mit der Aufschrift » AKTENSAAL « verschwunden, bevor Sara sie davon abhalten konnte.
    Die andere Frau konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit, und ihre langen, roten Fingernägel machten ein klackendes Geräusch wie ein Hund, der über einen Fliesenboden läuft. Sara schaute auf ihre Schuhe hinunter, die fleckig waren von allen möglichen Überresten der Fälle dieses Vormittags. In Gedanken ging sie die möglichen Schuldigen durch, aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass das, was sie jetzt tat, das absolut und ohne jeden Zweifel Unethischste war, was sie je in ihrem Leben getan hatte. Und mehr noch, es war ein völliger Verrat von Wills Vertrauen.
    Und sie konnte es nicht tun. Sie würde es nicht tun.
    So ging Sara nicht vor. Normalerweise war sie ein direkter Mensch. Wenn sie etwas über Wills Selbstmordversuch oder irgendwelche Details aus seiner Kindheit wissen wollte, dann sollte sie ihn fragen und ihm nicht in den Rücken fallen und in seiner Patientenakte schnüffeln.
    Die Frau war wieder da. » Kein William, aber einen Wilbur habe ich gefunden.« Sie hatte eine Akte unterm Arm. » Neunzehnfünfundsiebzig.«
    Während des Großteils ihrer Karriere hatte Sara mit Krankenakten aus Papier gearbeitet. Die meisten gesunden Kinder hatten bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr Akten mit etwa zwanzig Blättern. Die Akte eines nicht gesunden Kindes konnte um die fünfzig Seiten umfassen. Wills Akte war fast drei Zentimeter dick. Ein bröseliges Gummiband hielt verblasste Blätter gelben und weißen Papiers zusammen.
    » Kein zweiter Vorname«, sagte die Frau. » Ich bin mir sicher, irgendwann hatte er einen, aber viele von diesen Kindern fielen in dieser Zeit durch die Ritzen.«
    Ihre Kollegin erklärte: » Als hätte man die Tuskegee-Studie auf Ellis Island durchgeführt.«
    Sara griff nach der Akte, zögerte aber dann. Ihre Hand erstarrte in der Luft.
    » Alles okay, Darlin’?« Die Frau schaute ihre Kollegin an, dann wieder Sara. » Wollen Sie sich setzen?«
    Sara ließ die Hand sinken. » Ich glaube, ich brauche sie doch nicht. Tut mir leid, Ihre Zeit vergeudet zu haben.«
    » Sind Sie sicher?«
    Sara nickte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so schrecklich gefühlt hatte. Nicht einmal ihr Zusammenstoß mit Angie Trent hatte bei ihr ein so schlechtes Gewissen hinterlassen. » Tut mir wirklich leid.«
    » Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. War froh, endlich mal aufstehen zu können.« Sie wollte sich die Akte wieder unter den Arm klemmen, doch in diesem Augenblick riss das Gummiband, und die Papiere segelten zu Boden.
    Automatisch bückte sich Sara, um beim Aufheben zu helfen. Sie schob die Seiten zusammen und zwang sich, dabei nichts zu lesen. Es waren Laborberichte, die noch von Matrixdruckern stammten, Stapel von

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