Hasenherz
Bauernhäusern, einem Friedhof und ein paar rohen neuen Siedlungen getrennt. Die Wilbur Street ist nur noch bis zum nächsten Häuserblock nach Rabbits Tür gepflastert und führt dann als ein erdi ger, steiniger Weg weiter, zwischen zwei kurzen Reihen von Ranch häusern mit alternierenden Anstrichen hindurch, die 1953 auf zusam mengescharrter roter Erde errichtet worden sind; sogar heute noch gibt sie den Grashalmen, die hier und da hochgeschossen sind, einen kärgli chen Halt. Dann wird das Land noch steiler, und der Wald beginnt.
Wenn Rabbit geradeaus aus dem Fenster schaut, kann er in die der Stadt entgegengesetzte Richtung sehen, in das weite Ackertal hinaus, wo der Golfplatz liegt. , denkt er. Die flecki gen grünen Tapeten, die Brücken auf dem Fußboden, deren Ecken sich beharrlich nach unten rollen, der Schrank, dessen Tür immer gegen den Fernsehapparat bumst, alle diese Dinge, die seit Monaten seinen Sinnen entglitten sind, stürmen mit ungeahnter Gewalt auf ihn ein. Jede Kante in der Wohnung ist mit einer Kante in seiner Erinnerung verschränkt, jeder Riß, jede Unebenheit im Wandanstrich entspricht einer feinen Narbe in seinem Gehirn. Und dadurch wird der Gewissenhaftigkeit seines Saubermachens eine weitere Dimension hinzugefügt.
Unter dem Sofa und den Stühlen und hinter den Türen und unter den Küchenschränken findet er längst abgeschriebene Spielzeugbestandtei le, die Nelson entzücken. Das Kind hat ein vollendetes Gedächtnis, was seine kleinen Habseligkeiten angeht. «Das ist von Mom-Mom.» Und es hält eine Plastikente hoch, die ihre Räder eingebüßt hat.
«Ist wahr?»
«Mhm. Von Mom-Mom.»
«Das war aber nett von Mom-Mom.»
«Mhm.»
«Weißt du was?»
«Was?»
«Mom-Mom ist Mammis Mammi.»
«Mhm. Wo ist Mammi?»
«Inder Klinik.»
«Kie-nik? Kommt Freitag wieder?»
«Ja, am Freitag kommt sie wieder. Meinst du nicht, daß sie sich freuen wird, wenn sie sieht, wie schön wir alles saubermachen?»
«Mhm. Pappi auch in der Kie-nik?»
«Nein. Pappi war nicht in der Klinik. Pappi war weg.»
«Pappi weg» – die Augen des kleinen Jungen weiten sich, und sein Mund geht auf, als er sich den ihm geläufigen Begriff von verge genwärtigt, und seine Stimme wird ganz tief, der Tragweite des Aus drucks entsprechend –, «ganz, ganz lange.» Seine Arme strecken sich weit aus, um anzugeben, wie lange, sie strecken sich so weit aus, daß seine Finger sich nach hinten krümmen. Das ist das Längste, was er sich vorstellen kann.
«Aber jetzt ist Pappi ja nicht mehr weg, nicht?»
«Neihein.»
Er nimmt Nelson im Wagen mit, als er sich aufmacht zu Mrs. Smith, um ihr zu sagen, er müsse den Dienst in ihrem Garten quittieren. Der alte Springer hat ihm einen Job in einer seiner Filialen angeboten. Die Rhododendronsträucher am knirschenden Zufahrtsweg sehen staubig aus und gerupft, nur ein paar braun vergilbte Blüten sind noch zwi schen die Zweige geheftet, zusammen mit hellgrünem, neuem Blattwerk. Mrs. Smith kommt persönlich an die Tür. «Ja, aber, na sowas!» singt sie, und ihr braunes Gesicht strahlt.
«Mrs. Smith, dies ist mein Sohn Nelson.»
«So, so, guten Tag, Nelson, du hast den selben Kopf wie dein Vater.» Sie tätschelt den kleinen Kopf mit einer verwitterten Hand, die wie ein Tabaksblatt aussieht. «Oh, nun laß mich mal nachdenken. Wo habe ich doch das Glas mit den alten Bonbons hingestellt? Er darf doch Bonbons essen, nicht wahr?»
«Ein paar schon, aber, bitte, suchen Sie jetzt nicht danach.»
«Ich werde es aber doch tun. Es ist ganz traurig, junger Mann, ich habe nie so viel Kredit bei Ihnen gehabt, daß Sie mir auch nur die geringste Kleinigkeit zugetraut hätten.» Sie trippelt davon, mit der einen Hand vorn an ihrem Kleid zupfend, mit der andern vor sich durch die Luft fahrend, als streiche sie Spinnweben beiseite.
Sie ist fort, und Rabbit und Nelson stehen da im Wohnzimmer und schauen zum hohen Plafond hinauf und zu den riesigen Fenstern, deren Mittelpfosten so schmal sind wie Kreidestriche, und durch deren Schei ben – einige sind zart blau getönt – sie die Pinien und Zypressen sehen können, die weit hinten an der Grenze des Anwesens paradieren. Gemälde hängen an den schimmernden Wänden. Das eine ist in dunklen Farben gemalt und zeigt eine Frau, die in einen flatternden Seiden schal gewickelt ist und anscheinend gerade etwas Wichtiges sagt, nach den wild fuchtelnden Armen zu urteilen, und ein großer Schwan ist noch drauf, der
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