Hasenherz
einfach ein bißchen zudringlich dahockt. An der andern Wand hängt ein Porträt von einer jungen Frau, die ein langes schwarzes Kleid trägt und ungeduldig auf einem Polsterstuhl sitzt. Ihr Gesicht ist kantig, aber fein geschnitten, und ihre Stirn wird dreieckig durch die Frisur. Ihre Arme biegen sich rund und weiß in den Schoß. Rabbit tritt ein paar Schritte näher, um sie aus einem geraderen Winkel zu betrachten. Sie hat diese kurze, aufgeworfene Oberlippe, die er an Mädchen so liebt. Und die Lippe ist ein wenig heraufgezogen, so daß ein kleiner dunkler Spalt geöffnet ist. Wie das oberste Blütenblatt einer Blume ist diese Lippe. Ihr ganzer Körper drückt Bereitschaft aus. Er denkt, sie werde gleich aufstehen vom Stuhl und auf ihn zukommen, mit gerunzelter, dreieckiger Stirn. Mrs. Smith kommt zurück mit einem dunkelroten Stielglas, das wie ein Weinglas geformt ist, sieht, wo Rabbits Augen sind, und sagt: «Mich hat immer so gestört, daß er mich mit diesem verdrossenen Ausdruck gemalt hat. Ich konnte ihn nicht aus stehn, und er wußte das. Ein gewichster kleiner Italiener. Aber er kannte sich bei Frauen aus. Hier.» Sie ist zu Nelson gegangen mit dem Bonbonglas. «Versuch mal einen von diesen hier. Sie sind alt, aber sehr gut, wie viele alte Dinge in dieser Welt.» Sie nimmt den Deckel ab, eine türkisene Glashalbkugel mit einem Knopf obendrauf, und hält den Kelch mit zitternder Hand hin. Nelson sieht seinen Vater an, und Rabbit bedeutet ihm mit einem Nicken, er möge sich nur einen neh men, und so wählt er einen, der in buntes Stanniolpapier gewickelt ist.
«Den magst du sicher nicht», warnt Rabbit ihn. «Da ist nämlich eine gefüllte Kirsche drin.»
«Nanana», sagt Mrs. Smith, «Sie lassen den Jungen sich nehmen, was er möchte.» So nimmt das arme Kind sich also diesen Bonbon, ganz im Bann des Stanniolgeglitzers.
«Mrs. Smith», hebt Rabbit an. «Ich weiß nicht, ob Reverend Eccles schon mit Ihnen gesprochen hat, aber meine Situation hat sich sozusagen verändert, und ich muß mich nach einem andern Job umsehn. Ich bin nicht mehr in der Lage, Ihnen hier draußen zu helfen. Es tut mir leid.»
«Ja, ja», sagt sie und beobachtet mit größter Lebhaftigkeit, wie Nelson das Stanniolpapier herunterzuschälen versucht.
«Es hat mir wirklich Spaß gemacht», fährt er fort, «es war ein bißchen so wie im Himmel – wie die Dame damals gesagt hat.»
«Ach, diese närrische Person, diese Alma Foster», sagt Mrs. Smith. «Die sich die Lippen immer bis fast zur Nase rauf angemalt hat. Ich werde sie nie vergessen, die arme, liebe Seele. Kein Fünkchen Verstand im Leib. Komm, mein Kind, gib das mal Mrs. Smith her.» Sie setzt das Glas auf einem runden Marmortisch ab, auf dem nichts sonst steht außer einer orientalischen Vase mit Pfingstrosen, und nimmt Nelson die Praline aus der Hand und pflückt mit fahrigen, spitzen Fingerbewe gungen das Papier ab. Der Junge steht daneben und paßt mit offenem Mund auf, und sie fährt zitternd mit der Hand zu ihm herunter und schiebt ihm die Schokoladenkugel zwischen die Lippen. Mit einer tiefen, zufriedenen Furche in der einen Wange dreht sie sich um, läßt das Stanniolpapier auf den Tisch fallen und sagt zu Rabbit: «Tja, Harry. Wenigstens haben wir die Rhododendren in Ordnung gebracht.»
«Ja, das haben wir.»
« Meinem Harry ist das eine Freude, das weiß ich, ganz gleich, wo er sein mag.»
Nelson beißt sich zum erschreckenden Sirup der Kirsche durch, und sein Mund verrenkt sich vor Bestürzung; ein tröpfelnder brauner Faden kriecht ihm über die Lippe, und seine Augen flitzen angstvoll in dem makellosen Schloßzimmer umher. Rabbit hält unauffällig seine Hand auf, und der Junge geht zu ihr und spuckt still den Mischmasch hinein: Stückchen von der Schokoladenkruste, zähen warmen Sirup und die aufgebrochene Kirsche.
Mrs. Smith merkt nichts davon. Ihre Augen mit den transparenten Pupillen aus gesprungenem Kristall saugen sich in Harrys Gesicht fest, und sie sagt: «Es ist immer eine fromme Pflicht für mich gewesen, Horaces Garten in Ordnung zu halten.»
«Ich bin sicher, Sie finden wieder jemanden. Die Ferien haben gerade angefangen. Es wäre eine fabelhafte Sache für jeden High School-Jungen.»
«Nein», sagt sie, «nein. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich bin nicht mehr da im nächsten Jahr, wenn Harrys Rhododendren wieder kommen. Sie haben mich bisher am Leben gehalten, Harry, das ist die Wahrheit, Sie haben mich am Leben gehalten. Den ganzen
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