Hasstament
als Zuschauer stellvertretend mit ihm und durch ihn Katharsis und Befreiung von all dem Wahnsinn der Welt, indem er wertfrei und ungerecht um sich schlagend die diffusen Ängste widerspiegelt, sie auflöst und zerstreut und dabei durch seine schauspielerischen Qualitäten authentisch, aufrichtig und wahrhaftig wirkt.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung, vor allem ausgelöst durch die Ablehnung der Fremdsteuerung durch das Mittel Angst, ist ein weiterer zentraler Gedanke hinter dem Hassismus. Dieser immer gegenwärtige Missbrauch unserer Psyche wird in der ständigen Wiederholung der wiedergebenden Teilnahme, der Ablehnung, der Betroffenheit und Weiterentwicklung eben dieser fremd geschürten Ängste in den Hasspredigen gespiegelt.
Der Hassismus ist aus der Idee entstanden, ein besserer Hassprediger zu sein als die Hassprediger, die man in den Medien vorgesetzt bekommt, um eine bessere, dogmatischere und inkonsequentere Religion zu schaffen als alle Religionen und ihre Dogmen zusammen. Der Hassismus ist als die einzig wahre, alles umfassende Religion gegründet worden, die sämtliche wesentlichen Eigenschaften anderer Religionen aufrichtig und wahrhaftig in sich vereinigt: »Glaube, Gier und Größenwahn« (s. S. 98 ff.).
Der Hassismus soll Denkstrukturen ändern, zu Reflexionen durch das Mittel der Entfremdung anregen, indem Grenzen gesprengt werden durch die vulgäre Sprache und indem der alltägliche Wahnsinn widergespiegelt wird, mit dem wir medial in Kontakt geraten.
»Sie müssen unterscheiden, was ich meine und was nicht! Das ist eine leichte Übung für Demokraten« (Serdar Somuncu).
Hassismus ist somit die Reaktion auf die Abstumpfung, den schon immer latent vorhandenen und immer mal wieder aufkeimenden Faschismus, den Rassismus, die Intoleranz und die Ignoranz im Alltag. Er nimmt diese Dinge vorweg, spiegelt sie wider und dieses besser und radikaler als ihre eigentlichen Protagonisten. Der abgestumpfte Mitläufer bei alldem wird durch die hassistische Ansprache mit höherer Wahrscheinlichkeit mitgenommen und erreicht, als dieses Zwang oder der erhobene moralische Zeigefinger jemals könnten.
Wir Hassisten und insbesondere der Hassias erzeugen Meinung, indem wir tausendfach wiedergekäute Einstellungen aufgreifen und so darbieten, dass sie mit den Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten der Konsumenten spielen und so zum Nachdenken anregen können.
»Seid aufgeklärt und haltet es aus, eine eigene Meinung zu haben!« (Serdar Somuncu).
Der Rezipient sollte vor allem in der Lage sein, zu verstehen, was ernst gemeint ist, was ernst gemeint sein könnte und was nicht ernst gemeint sein kann. Er sollte fähig sein, sich seines Verstandes zu bedienen, indem er sich Gedanken darüber macht, ob die präsentierten Inhalte mit seinen eigenen Werten wie die der Würde des Menschen, Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit zu vereinbaren sind. Und selbst wenn der Rezipient von sich selbst und seinem Menschsein insofern entfremdet ist, dass er mit diesen Werten nichts anzufangen weiß, so sollte er Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen im Dargebotenen erkennen, sich Gedanken machen und eine Meinung bilden, denn in dem Dargebotenen stecken sowohl Rolle als auch Selbst und beide Ebenen sind sehr stark miteinander verwoben – diese zu beurteilen, einzuordnen und im Selbstbezug zu bewerten liegt am Empfänger selbst.
Diese Herangehensweise ist ungewöhnlich und nicht für jedermann zu begreifen. Vor allem aber ist sie erfolgreich. Einerseits wird Serdar Somuncu bewundert und gefeiert, oft genug – allzu oft leider – erfolgen jedoch unreflektiert reflexartige Reaktionen. Einerseits stehende Ovationen bei den Vorstellungen der Hassprediger-Tournee(n). Tausende, die sich vom Werk Serdar Somuncus, seinen Auftritten, Büchern und Videos inspiriert fühlen, die sich tiefergehende Gedanken machen, Hoffnung und Kraft schöpfen, wie unzählige Zuschriften belegen. Andererseits existieren haufenweise Fans, die unreflektiert alles Gesagte für bare Münze nehmen und sich in ihren Vorurteilen bestätigt fühlen, und andere, die Ansprüche stellen und überzogene Erwartungen hegen wie zum Beispiel viele Einträge auf der Facebook-Seite Serdar Somuncus und Einträge auf der Klagemauer seiner Internet-Repräsentanz aufzeigen (s. S. 312 ff.)
Serdar Somuncu und seine Arbeit werden mit Beschimpfungen und Drohungen aus allen Lagern konfrontiert: Linke bezeichnen ihn als »homophob, frauenfeindlich,
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