Hast du mich nie geliebt
Nikos wurde dadurch abgelenkt, was Janine nur recht war.
Sie griff hastig nach der Karte und studierte das Menü. Leider verstand sie davon kein Wort. Nicht nur, weil die Karte auf Griechisch war, sondern weil sie unfähig war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Verlangen. Nacktes, blankes Verlangen. Das stand in seinen Augen und hatte sie getroffen wie ein Blitz. Es hatte Gefühle in ihr ausgelöst, von deren Existenz sie bisher nicht einmal gewusst hatte.
Schnell griff sie wieder nach ihrer Sonnenbrille, setzte sie auf und fühlte sich gleich ein bisschen sicherer.
"Was möchten Sie trinken?" fragte Nikos aufmerksam.
"Oh, Mineralwasser, einfach nur Wasser", sagte sie. Erneut nahm sie sich die Karte vor, und jetzt sah sie, dass es auch eine Fassung auf Englisch gab.
Ihr Atem wurde wieder ruhiger, ihre Nervosität legte sich. Sie konzentrierte sich auf die Auswahl der Speisen.
"Ich nehme nur einen Salat", sagte sie dann. "Für alles andere ist es viel zu heiß."
"Keine Kalamares?" Er klang amüsiert.
Janine schüttelte den Kopf und schnitt ein Gesicht. "Nein, vielen Dank. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich mag diese komischen Fangarme nicht."
Er lachte. "Wenn sie in Teig gebraten sind, sieht man die Fangarme nicht."
Aber er bestand nicht darauf, sie zu überzeugen, und gab beim Kellner ihre Bestellung auf. Fasziniert hörte Janine den beiden zu, konnte aber leider kein einziges Wort verstehen. Griechisch schien keine leichte Sprache zu sein.
Ich muss es unbedingt lernen, dachte sie. Um Stephanos' willen.
Der Kellner verließ sie, und Nikos wandte sich ihr wieder zu.
Als sie vorhin ihre Haare gelöst und geschüttelt hatte, war er unmerklich zusammengezuckt. Sie war so sinnlich – kaum konnte er den Blick von ihr abwenden. Ihre Lippen waren so fein geschwungen, als hätte ein Bildhauer sie modelliert. Ihre Schönheit war atemberaubend.
Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt, um ihr über das Haar zu streichen. Er wollte sie an sich ziehen, sich ihr langsam nähern und dann …
Ein ungewohntes Gefühl ergriff ihn. Verlangen ja, aber das war ihm nicht neu. Hier ging es um mehr. Er wollte Janine besitzen, wollte aller Welt zeigen, dass sie zu ihm gehörte. Was war nur mit ihm los? Das hatte er noch nie zuvor empfunden. Und offensichtlich war das Gefühl in diesem Fall auch völlig fehl am Platz. Hier ging es nicht um ihn und um die Erfüllung seiner Wünsche. Er hatte den Auftrag, seine Schwester zu rächen. Das durfte er nie vergessen.
Noch einmal – es ging nicht um ihn. Er durfte diese ganze Sache nicht persönlich nehmen. Demetria hatte ihn gebeten, ihr zu helfen, und genau das würde er auch tun. Nicht mehr und nicht weniger.
"Nun? Haben Sie genug gesehen?" Nikos blickte sie amüsiert an.
Janine betrachtete ihn, wie er ganz entspannt an der Mauer einer Ruine lehnte. Im Gegensatz zu ihr schien ihm die Nachmittagshitze nichts auszumachen. Feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, die Kleidung klebte ihr förmlich am Körper.
"Ja, ich denke schon", erwiderte sie. "Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht über Gebühr aufhalten. Aber ich habe noch nie zuvor einen griechischen Tempel gesehen."
"Nein?" Er war erstaunt.
"Ich bin zum ersten Mal in Griechenland", erklärte sie. "Diesen Teil des Mittelmeers kenne ich nicht so gut."
"Was ist Ihnen denn vertrauter?" fragte er interessiert. "Spanien?"
"Nein. Ich kenne mich ganz gut in Südfrankreich aus."
Das konnte Nikos sich gut vorstellen. Die Côte d'Azur, der Tummelplatz der Schönen und Reichen waren bestimmt gute Jagdgründe für eine Abenteurerin wie sie. Ja, das passte ins Bild.
Janine war inzwischen weitergegangen und betrachtete interessiert eine ionische Säule. Von dem ursprünglichen Tempel war nicht mehr viel übrig geblieben, aber die Schönheit des Ortes war noch immer erhalten. Nikos hatte nach dem Essen vorgeschlagen, die Ruine zu besichtigen. Sie lag auf der Spitze eines Berges. Man konnte sich gut vorstellen, wie die Priester von hier aus mit den Göttern kommuniziert hatten.
Er war sich nicht sicher gewesen, ob Janine etwas für solche archäologischen Stätten übrig hatte. Aber in dieser Hinsicht sah er sich getäuscht. Sie war sehr angetan davon und studierte interessiert die Informationstafeln.
Jetzt waren sie bestimmt schon zwanzig Minuten hier. Janine fand immer wieder etwas Neues, das sie interessierte. Der Zauber des Ortes schien sie völlig in seinen Bann zu ziehen. Nikos hatte ihr Zeit gelassen.
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