Hauch der Verfuehrung
die Augen. »Bis ich Sie so malen kann, wie wir Sie porträtieren müssen.«
Jacqueline erwiderte seinen Blick einen Moment, dann sah sie weg. »Es scheint viel einfacher zu sein, als ich dachte, wenigstens für mich.«
»Das hier ist der leichtere Teil der Übung - je weiter wir vorankommen, desto länger werden Sie still dasitzen müssen, an einer Stelle, in einer bestimmten Pose.« Er klappte den Block zu und lächelte. »Aber nicht jetzt. Bis zu dem Zeitpunkt, da wir zu den abschließenden Sitzungen kommen und Sie eine Stunde lang völlig reglos verharren müssen, sind Sie darin schon geübt.«
Sie lachte, verspürte einen Druck in ihrer Brust, eine Anspannung, die sie inzwischen eher als eine Form von Vorfreude und Aufregung erkannte, weniger als Angst.
Er stand auf, den Skizzenblock in der einen Hand; die andere hielt er ihr hin.
Sie schaute zu ihm auf, dann legte sie ihre Finger in seine Hand und wappnete sich vor den Empfindungen, die sie überfluteten, wie stets, wenn sich seine Finger um die ihren schlossen.
Ihr Herz machte einen Satz, dann klopfte es schneller.
Er schaute ihr in die Augen, rührte sich nicht.
Und plötzlich begriff sie, verstand sie: Was sie fühlte, zwischen sich und ihm spürte ... das war sie nicht allein.
Ihm ging es genauso.
Sie sah die Wahrheit in seiner Miene, in dem plötzlichen Vorschieben seines Kinns, dem fast unmerklichen Aufflackern von etwas in den Tiefen seiner braunen Augen.
Er zog sie hoch, und sie stand auf. Er zögerte, dann ließ er ihre Hand los.
Sie blickte zu Boden, strich ihre Röcke glatt und bemerkte, als sie unter dem Kranz ihrer Wimpern wieder nach oben spähte, dass er wegschaute; sie sah das Heben und Senken seines Brustkastens, als er einatmete - es schien ihm fast so schwerzufallen wie ihr.
Er winkte sie weiter in die Gärten. »Lassen Sie uns gehen. Ich möchte Sie gerne vor verschiedenen Hintergründen sehen, in verschiedenen Lichtverhältnissen.«
Sie begaben sich in den Garten der Diana, aber nach zwei knappen Skizzen schüttelte er den Kopf. Gefleckte Schatten, erklärte er ihr, seien nicht das Richtige. Sie schlenderten weiter in den Garten des Mars, wo es ihm schon besser gefiel. Er bat sie, vor einem üppig blühenden Beet Platz zu nehmen, und ließ sich in der Nähe nieder. Wieder stellte er Fragen, und sie antwortete; es war seltsam, denn er erwartete nicht, dass sie ihn anschaute. Aus seinem plötzlichen Schweigen, das allein vom Kratzen des Stiftes auf dem Papier unterbrochen wurde, erkannte sie, dass er nicht wirklich zuhörte, sondern vor allem beobachtete; er las ihre Miene.
Eine merkwürdige Form der Kommunikation.
Aber auf befremdliche Art auch befreiend - sie hatte rasch gemerkt, dass sie so ziemlich alles sagen konnte - er ließ keine Reaktion erkennen; er war nicht da, um zu beurteilen, was sie sagte, sondern um zu sehen, wie sie auf die Themen reagierte, die er ansprach, und um ihre Gefühle zu erkunden, denen sie freien Lauf ließ.
Es war lange her, seit sie zum letzten Mal ihre Gedanken frei ausgesprochen hatte. Die Erfahrung heute, sich auf ihre Reaktionen zu konzentrieren, erlaubte ihr, sie zu erforschen, zu wissen oder zu erkennen, was sie und wie sie sich dabei fühlte.
Nach einer Weile erhob er sich, zog sie ebenfalls auf die Füße und ging mit ihr zum Garten des Apoll. Er ließ sie vor der Sonnenuhr sitzen; dieses Mal zeichnete er sie von der Seite. »Da wir gerade hier sind, lassen Sie uns über das Thema Zeit reden.«
»Zeit inwiefern?«, fragte sie, saß mit angezogenen Knien da, die Wange darauf gebettet, wie er es ihr aufgetragen hatte.
»Zeit im Sinne von ... Haben Sie das Gefühl, dass sie an Ihnen vorbeigegangen ist, da Sie ja nun hier unten so abgelegen wohnen?«
Sie dachte darüber nach. »Ja, ich denke schon. Es gibt hier unten wenig Interessantes. Ich bin dreiundzwanzig und habe das Gefühl, dass mein Leben - mein Leben als erwachsene Frau - inzwischen begonnen haben sollte, aber das hat es nicht.« Sie machte eine kleine Pause, dann fügte sie hinzu: »Mit Thomas’ Verschwinden und dann Mamas Tod kommt es mir vor, als ob ich in der Schwebe hinge.«
»Sie müssen sich selbst befreien, ehe sie weitergehen können.«
»Ja.« Sie nickte, dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich nicht unnötig bewegen sollte, und neigte den Kopf wieder so, wie er sie gebeten hatte. »Das ist es ja genau. Bis Mamas Mörder gefasst ist, steht für mich die Zeit still. Ich kann nicht weggehen und alles hier - diese
Weitere Kostenlose Bücher