Hauch der Verfuehrung
mit dem Erstbesten, woran Sie sich erinnern.«
Ihre Brauen blieben hochgezogen, während sie nachdachte, dann senkten sie sich langsam, und ihr Blick bekam etwas Entrücktes. Er wartete, ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen, und seine Finger glitten, ohne zu stocken, über das Papier. Sie sah ihn nicht an; damit hatte er auch gar nicht gerechnet. Wie die meisten Leute, die etwas erzählten, blickte sie an ihm vorbei und bot ihm so genau den nicht ganz direkten Winkel, den er sich wünschte. Seine Wahl des Themas war nicht so willkürlich, wie er es hatte klingen lassen; an die Kindheit zu denken weckte alle möglichen Erinnerungen. Erinnerungen, die in den Gesichtern seiner Modelle ihre Spuren hinterlassen hatten.
»Ich nehme an«, begann sie schließlich, »das Erste, woran ich mich klar erinnern kann, ist der Augenblick, als ich auf meinem ersten Pony gesessen habe.«
»Hat es Ihnen Spaß gemacht?«
»Oh, ja! Es hieß Cobbler. Er war schwarz und hellbraun und hatte das sanftmütigste Wesen, das man sich nur vorstellen kann. Er ist schon vor Jahren gestorben, aber ich weiß noch genau, wie sehr er Äpfel liebte. Die Köchin hat mir immer welche für ihn gegeben, wenn ich zu meiner Reitstunde aufbrach.«
»Wer hat Sie unterrichtet?«
»Richards, der Stallmeister. Er ist noch hier.«
»Sind Sie durch die Gärten spaziert?«
»Natürlich - Mama und ich sind jeden Tag hier gewesen, egal ob bei Regen oder Sonnenschein.«
»Als Sie ein Kind waren?«
»Und später auch.«
Einen Augenblick lang ließ er die Stille lasten. Sie bewegte sich nicht, entweder weil sie in Erinnerungen versunken war, oder weil sie nicht genau wusste, wie schnell sich seine Finger bewegten, wie rasch er den Ausdruck aufs Papier bannte, der sich kurz auf ihrem Gesicht gezeigt hatte - die schlichte und ungetrübte Freude aus Kindertagen, überschattet von den Sorgen, die das Erwachsenwerden mit sich bringt.
Schließlich blätterte er um und sagte, ohne aufzusehen: »Es muss recht einsam hier gewesen sein, als Sie klein waren - die Frithams wohnten damals noch nicht hier in der Gegend, nicht wahr?«
»Nein, das ist wohl wahr - und ja, ich war einsam. Es gab noch nicht einmal Kinder von den Dienstboten oder von den Arbeitern in Garten und Stallungen. Ich war das einzige Kind weit und breit und oft allein - bis auf mein Kindermädchen und später meine Gouvernante natürlich. Es war wundervoll, wirklich, fast wie der Beginn eines neuen Lebens, als dann die Frithams kamen.«
Wieder strahlte die Freude aus ihrer Miene; Gerrard bemühte sich, diesen Ausdruck mit ein paar Bleistiftstrichen festzuhalten. »Wie alt waren Sie damals?«
»Sieben. Eleanor war acht und Jordan zehn. Ihre Mutter Maria und meine Mutter waren Freundinnen aus Kindertagen, was auch der Grund war, weshalb sie herkamen, um in der Nähe zu leben. Über Nacht hatte ich einen älteren Bruder und eine ältere Schwester bekommen. Natürlich kannte ich mich hier in der Gegend viel besser aus als sie, besonders in den Gärten; daher war ich sozusagen ebenbürtig. Später ... nun, Eleanor ist immer noch meine beste Freundin, während Jordan mich fast so behandelt wie Eleanor, also wie ein großer Bruder seine kleine Schwester.«
Er war versucht zu fragen, wie sie Jordan sah; stattdessen erkundigte er sich nach ihren jugendlichen Torheiten. Sie beschrieb eine Reihe von Ereignissen, und dabei stahl sich allmählich ein Lächeln auf ihre Lippen, ein übermütiges Funkeln in ihre Augen.
Nach zwanzig Minuten schaute sie ihn an. »Geht es so?«
Er fügte noch ein paar Striche hinzu, dann blickte er auf. »Sie machen das wunderbar. Mehr ist zu diesem Zeitpunkt gar nicht notwendig. Einfach nur entspannt dasitzen und plaudern, damit ich mich mit Ihren Gesichtszügen und Ihrem Mienenspiel vertraut machen kann.«
Er beendete die letzte Skizze, blätterte zurück und betrachtete sie kritisch. »Im Lauf der nächsten Tage« - er überflog, was er bislang vollbracht hatte, verschiedene Gesichtsausdrücke aus immer demselben Winkel - »werde ich noch zahllose Skizzen dieser Art anfertigen; sobald ich dann genauer weiß, mit welcher Ihrer Mienen ich mich näher befassen möchte« - und welche Themen die Gefühle auslösten, die sich dann in einem bestimmten Gesichtsausdruck widerspiegelten - »werde ich weniger Skizzen benötigen, aber die müssen mehr Details enthalten, bis ich genug Übung darin habe, genau die Wirkung zu erzielen, die ich beabsichtige.«
Er schaute hoch und ihr genau in
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