Hauch der Verfuehrung
sah zum Eingang, der von der Nachmittagssonne vergoldet wurde, aber trotzdem den Anflug einer schwülen, bedrückenden Schwermut aufwies, die dahinter lauerte.
Gerrard schaute ihr ins Gesicht, während sie seine Zeichnungen betrachtete, und erkannte, was sie sah: Sie hatte seine Vision verstanden. Er hatte seine bis dahin unumstößliche Regel gebrochen, weil er wollte, dass sie begriff, dass sein Porträt tatsächlich die Macht besitzen würde, alle Vorurteile wegen ihrer Schuld zu sprengen; es würde überzeugend genug von ihrer Unschuld sprechen, um die Leute dazu zu bringen, ihre Einstellung zu überdenken. Am Ende hatte es die Macht, das Gespenst des wahren Mörders zu wecken.
Dass sie das wusste, das glaubte, war wichtig, damit sein Plan aufging, damit das Bild lebendig wurde. Das Werk, von dem er überzeugt war, dass es das großartigste seiner Arbeiten bislang werden würde.
Er fragte sie nicht nach ihrer Meinung, sondern wollte ihre Zustimmung, ihre Unterstützung.
Eine erschütternde Erkenntnis.
»Du hast mich nicht direkt im Eingang skizziert. Ich stelle mich gerne dorthin« - sie schaute auf seine Skizzen - »für das hier.«
Er schüttelte den Kopf. »Das brauchst du nicht - wenn du im Atelier Modell stehst, ist das besser. Auf dem Bild soll Nacht sein und der Mond scheinen. Ich habe genügend Landschaftsbilder gemalt, um zu wissen, wie ich das Mondlicht für die Umgebung um dich herum am besten hinbekomme; bei Personen ist das viel schwieriger. Ich muss dann bei Kerzenlicht arbeiten und es in Mondlicht verwandeln.« Er fing ihren Blick auf. »Es wird noch unbequem genug werden - dann wollen wir wenigstens im Haus arbeiten.«
Sie erwiderte seinen Blick, dann verzog sie das Gesicht. »Danke für die Vorwarnung.« Sie schaute zum Garten der Nacht hinüber. »Wenn du dir sicher bist.«
»Das bin ich sehr wohl.«
Beim Klang von Schritten aus dem Garten der Vesta drehten sich beide um.
»Barnaby.« Gerrard klappte den Skizzenblock zu.
»Ob er wohl schon oben im Haus war?«
Barnaby erschien auf dem Weg und sah sie. Er grinste und schlenderte zu ihnen. »Richards meinte, du seiest hier. Nach meinem anstrengenden Vormittag fand ich, dass ich meine Selbstbeherrschung nicht noch weiter strapazieren sollte - wenn man Richards Glauben schenkt, dann ist eine ganze Horde Damen aus der Umgebung im Salon versammelt.«
Er ließ sich ins Gras vor der Bank sinken und seufzte schwer, streckte sich aus, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
Gerrard grinste und stupste Barnaby mit der Stiefelspitze an. »Nun erzähl schon! Was hast du in St. Just erfahren?«
Barnabys Miene verfinsterte sich sogleich; es war sofort klar, dass ihm das, was er gehört hatte, nicht gefallen hatte. »Es ist alles Unsinn. Nun, nein, ich kann - nur unter ganz bestimmten Umständen - verstehen, dass Leute voreilige Schlüsse ziehen, ohne wirkliche Fakten als Grundlage. Und die einzige allseits bekannte Tatsache bei Thomas’ Verschwinden und seinem Tod jetzt ist, dass die Person, die ihn zuletzt lebend gesehen hat, und - was noch wichtiger ist - mit ihm zusammen war, Jacqueline ist.«
Er öffnete die Augen und schaute sie an. »Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich hätte nicht geglaubt, wie weit verbreitet, wie tiefgehend der Verdacht gegen Sie ist. Ich musste sehr aufpassen, was ich sage - wie viel ich verrate, und - noch wichtiger - wie ich auf« - er fuchtelte sichtlich aufgebracht mit den Händen herum - »vermeintlich unzweifelhafte Tatsachen reagiere.«
Barnaby schaute Jacqueline an und grinste. »Ich versichere Ihnen, ich verdiene eine Medaille für meine Diskretion.« Er sah zu Gerrard. »Aber es war erschreckend und fast schon beunruhigend.«
Gerrard zog die Brauen zusammen. Barnaby benutzte Wörter wie »erschreckend« und »beunruhigend« nicht leichtfertig. Genau genommen vermochte nur wenig Barnaby zu beunruhigen oder zu erschrecken.
Er lehnte sich mit geschlossenen Augen wieder zurück und verschränkte auch die Arme wieder. Schließlich fragte Gerrard: »Was denkst du?« Es war ganz offensichtlich, dass Barnaby unheilvolle Gedanken durch den Kopf gingen.
Barnaby seufzte. »Ich glaube ernsthaft, dass wir jetzt handeln müssen - wir können nicht alles auf später verschieben, bis das Porträt fertig ist und wir den Leuten damit die Augen öffnen können.« Er sah sie an. »Das Porträt ist wichtig, um die Leute zum Umdenken wegen des Todes Ihrer Mutter zu bewegen, aber bei Thomas ...«
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