Hauchnah
unbedingt. Aber ich möchte Ihnen gern ein paar Fotos zeigen.“ Er nahm die großen Hochglanzfotos aus einer Mappe und hielt Natalie beide vor die Nase. Sie blinzelte, starrte ungerührt auf die Bilder, dann wandte sie sich ab.
„Ich … ich erkenne sie nicht, und ich weiß nicht, was das alles soll. Würden Sie beide jetzt bitte gehen?“
Sie hatte es weiß Gott eilig, ihn rauszuwerfen. „Warum sehen Sie mich nicht an, Ms Jones?“ Dass sie seinen Blick mied, ärgerte ihn, reizte ihn mehr, als gut für ihn war.
„Mac …“
Beschwörend schaute Mac zu seinem Kollegen.
„Wissen Sie, was man uns auf der Polizeiakademie als Erstes beibringt? Dass die Vermeidung von Blickkontakt ein Hinweis darauf ist, dass eine Person etwas zu verbergen hat. Haben Sie etwas zu verbergen, Ms Jones?“
„Hey, Mac …“
Jase verstumme, da Mac ihm wieder einen bösen Blick zuwarf. Er kniff die Augen zusammen, verschränkte die Arme und bedeutete Mac, fortzufahren.
Die Frau reckte trotzig das Kinn vor. „Ich kenne meine Rechte. Ich muss nirgendwohin mit Ihnen gehen, es sei denn, Sie verhaften mich. Und ich muss auch nicht mit Ihnen reden.“
„Wieso glauben Sie, ich würde Sie nicht verhaften?“ Leise hatte er seine Frage an sie gerichtet, wünschte jedoch sogleich, die Worte zurücknehmen zu können. Herrgott, was war los mit ihm? Die Frau war keine Verdächtige, sondern das Opfer eines Mordversuchs. Außerdem war sie womöglich eine Informationsquelleim Hinblick auf einen anderen Mordfall, und er führte sich auf wie ein Idiot, nur weil sie ihn nicht anschaute? Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und kämpfte um Selbstbeherrschung. „Hören Sie, Sie werden nicht verhaftet, und ich habe auch keine Ahnung, warum wir gleich so aneinandergeraten sind. Noch einmal: Es tut mir leid, dass ich die Tür aufgebrochen habe. Ich war in Sorge, als ich hörte …“
Eine blecherne Stimme unterbrach ihn. „Die Zeit: Es ist elf Uhr vormittags.“
Wortlos griff Natalie an ihr Handgelenk und drückte eine Taste ihrer Armbanduhr.
Ohne hinzusehen. Und nicht, ohne zuerst ein wenig zu tasten.
Sekundenlang starrte Mac sie an. „Tolle Uhr.“ Er blickte sich noch einmal im Zimmer um, betrachtete den sparsam ausgestatteten, dämmrig beleuchteten Raum mit anderen Augen. Nichts stand im Weg. Nichts, worüber man stolpern konnte. Die Schränke penibel eingerichtet, alles stand an seinem Platz. Ein großzügiger Freiraum rund um das Laufband, wie in Erwartung dessen, was an diesem Tag geschehen war.
In diesem Moment entdeckte er ihn. Er lehnte in einer Ecke beim Klavier. Die weiße Farbe des Stocks verschmolz nahezu mit dem schmucklosen Weiß der Wände.
Ein Gehstock.
Ein Blindenstock.
Mac sah in Sekundenbruchteilen zwischen Natalie und Jase hin und her. Jase lehnte immer noch mit verschränkten Armen an der Wand. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
Ohne Scheiß, Sherlock.
5. KAPITEL
D as Schweigen hielt so lange an, dass Natalie sich fragte, ob die Detectives sich entmaterialisiert hatten, wie Captain Kirk und Spock in der alten Raumschiff-Enterprise-Serie, die ihre Mutter stets verfolgt hatte. Aber nein, eine kleine Lichtveränderung ließ sie erkennen, dass einer der Detectives – Detective McKenzie, derjenige, der sie vorher berührt hatte – näher an sie herangetreten war.
„Haben Sie Ihr Augenlicht durch einen Unfall verloren?“, fragte er, und etwas wie Mitleid ließ seine Stimme weicher klingen.
Unwillkürlich versteifte sich Natalie. „Was? Nein.“
„Ihre Uhr. Ihr Gehstock. Wie lange sind Sie schon blind?“
„Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht blind zur Welt gekommen bin?“
„Sie sind Fotografin …“
„Es gibt auch blinde Fotografen.“ Natalie war wütend über sich selbst und ihren bissigen, defensiven Tonfall. „Evgen Bavčar, zum Beispiel. Und Alice Wingwall von der East Bay.“
„Irgendwie glaube ich nicht, dass die NASCAR Sie als Blinde hinters Steuer eines ihrer Rennwagen gelassen hätte, nicht mal für eine kleine Runde am Eröffnungstag. Wann war das, vor etwa zwei Jahren?“
Natalie versuchte sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, doch es gelang ihr nicht. Ebenso wenig schaffte sie es, die Traurigkeit bei dem Gedanken an diesen Tag zu verbergen. Ein Stockcar zu fahren war wie ein intensiver Rausch gewesen, und sie hatte jede Minute ausgekostet, doch das Erlebnis hätte sie gern gegen die Chance, wieder sehen zu können, eingetauscht. Ein bisschen besser. Ein bisschen
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