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Hauchnah

Hauchnah

Titel: Hauchnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virna Depaul
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länger.
    „Sie haben sich in der Presse einen Namen gemacht. Ich musste nicht lange suchen, um eine ganze Menge über Sie zu erfahren. Doch nirgends wurde Ihre Blindheit erwähnt.“ Wieder senkte er die Stimme. „Wann ist es passiert?“
    Seine leise Stimme, unterlegt mit einer Sanftheit, die den Eindruck von Anteilnahme erweckte, wirkte wie eine Nadel, die in eine offene Wunde stach. „Das geht Sie nichts an.“
    Das unüberhörbare Zähneknirschen tat seinen Keramikkronen bestimmt nicht gut. Natalie bemerkte eine verschwommene Bewegung und hörte das Rascheln von Kleidung, während er sich vor sie hinhockte. Sie strengte sich an, seine Gesichtszüge zu erkennen, gewann jedoch nur einen allgemeinen Eindruck. Zunächst von intensiver Körperwärme. Dann von einem zitrusfrischen Sandelholzduft. Und dann fokussierte sich ihr Blick, nur für ein paar Sekunden, und vermittelte ihr einen Hinweis auf sein Aussehen. Schroff. Kantig. Dunkle Brauen über den Augen. Ein eckiges, aggressiv wirkendes Kinn.
    Es juckte ihr in den Fingern, ihr Puls beschleunigte sich. Dieses Gefühl hatte sie schon häufig in ihrem Leben verspürt, doch jetzt überrumpelte es sie. Nach dem Erlebnis auf dem Bauernmarkt hatte sie, selbst nachdem ihr Sehvermögen wieder zugenommen hatte, nicht eine Sekunde lang geglaubt, dass sie je wieder ein Foto machen würde.
    Jetzt aber überfiel sie der verzweifelte Drang, nach ihrer Kamera zu greifen. Die reine ästhetische Schönheit einzufangen, die sein Gesicht ausmachte. Seinen Körper. Leider befand sich ihre Kamera außer Reichweite. Darüber hinaus hätte sie den Detective auch nicht auffordern können, für sie zu posieren. Trotzdem war der Adrenalinstoß, den sie in der Vergangenheit so oft gespürt hatte, der die kreative Muse in ihr weckte und sie drängte, Foto auf Foto zu schießen, ganz unverhofft erfolgt. Und aus gutem Grund.
    Zum ersten Mal seit Wochen sah Natalie außerhalb ihrer Träume Farben. Nun ja, nicht wirklich. In Wahrheit waren sein Gesicht und alles um ihn herum immer noch Grautöne, doch während sie ihn anblickte, beschwor ihr Bewusstsein Nuancen von dunklem Mokka, mattem Gold und leidenschaftlichem Tiefrot und Pflaumenblau herauf. Auf keinen Fall beruhigend, nicht die kühlen Blau- und Grüntöne der griechischen Inselnoder der Kaskadenkette, sondern die satten Herbstfarben Neuenglands oder des ländlichen Italiens. Im Lauf der Jahre gealtert und verwittert zu einer sinnlichen Patina des Verfalls, weswegen sie sich umso verzweifelter wünschte, es auf Zelluloid bannen zu können.
    Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Trotz ihrer Bemerkung über blinde Fotografen dachte sie, das alles hinter sich gelassen zu haben. Dass sie ihre Leidenschaft hinter sich lassen musste. Sie austreiben, herausschneiden musste. Rücksichtslos abschneiden wie ein verkümmertes Glied, das für ihren Körper überlebenswichtiges Blut zu vergeuden drohte. Farbe war eine Erinnerung, in der sie im Schlaf schwelgen konnte, genauso wie Gefühle von Frieden und Zufriedenheit, die daher rührten, dass sie in ihren Träumen über normale Sehschärfe verfügte. Sie konnte nicht hoffen, diese Dinge noch einmal im wachen Zustand zu erleben.
    Doch jetzt war sie sich nicht so sicher. Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob sie Bonnies Isolationstheorie aus Pragmatismus oder Angst angenommen hatte. Die Erkenntnis, dass sie das Leben wieder in seiner Buntheit erfahren könnte, löste etwas in ihr, das sich auf Anhieb entfaltete und versuchte, seine Flügel auszubreiten.
    „Ich weiß, was Ihnen gestern Abend zugestoßen ist“, sagte der Detective sanft. „Wie groß Ihre Angst gewesen sein muss. Bitte, lassen Sie uns von vorn beginnen. Ich bin nicht gekommen, um alles noch schwieriger für Sie zu machen. Ich muss Ihnen nur ein paar Fragen zu einem Fall stellen, an dem ich gerade arbeite. Darf ich?“
    Der Gefühlssturm in ihrem Inneren legte sich. Jetzt klang er so, als wollte er ein Pferd besänftigen. War ihr die Angst so deutlich anzumerken? War sie so unfähig geworden, die Fassung zu bewahren? Sie zitterte innerlich und hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ihm zu antworten. „Es tut mir …“
    Der fast unmerkliche Kontrast von Hell und Dunkel vor ihren Augen verschwamm, sowie er mit einer Hand vor ihrem Gesichtwedelte. Empört schnellte ihre rechte Hand nach oben, um ihn abzuwehren, doch stattdessen verschränkten sich ihre Finger mit seinen. Bevor sie sie ihm entziehen konnte, krümmte er die Finger

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