Hauchnah
gemeinte Gesten vermutlich als Mitleid auf, und in zahlreichen Fällen hatte sie wahrscheinlich recht. Es fiel schwer, allein angesichts ihrer Lage, kein Mitleid zu empfinden. Trotzdem übersah sie eines: Wenn jemand vor ihr stand, mit ihr redete, überhaupt mit ihr zusammen war, fiel es genauso schwer, nicht zu erkennen, dass sie eine außergewöhnliche Frau war. Vermutlich war sie der einzige Mensch, der darauf hingewiesen werden musste.
Mit einem letzten Blick über die Häuser stieg er ins Auto und ließ Jase kaum Zeit zum Einsteigen, bevor er losfuhr. Während der zweistündigen Rückfahrt zum SIG-Hauptquartier in einem eigenen Gebäude neben dem der Polizeibehörde von San Francisco sprachen sie kein Wort miteinander. Dort angekommen, gingen sie unverzüglich ihrer eigenen Wege.
Mac sprach seine abfälligen Gedanken nicht aus und unterließ es, Jase viel Spaß mit seiner Tussi zu wünschen. In seinem Büro schloss er die Tür hinter sich. Das war ein Vorteil für ihn als Vorgesetzten: Er musste nicht mit den übrigen Agenten im Großbüro sitzen. Sein Monitor zeigte immer noch Natalies Website. Er klickte auf ihre Biografie mit dem professionellen Foto.
Es war seltsam, sie sorgfältig geschminkt, mit gelocktem Haar und stark getuschten Wimpern zu sehen, die noch schwärzer und länger als in natura wirkten. Und es war schwer zu glauben, dass diese Augen bloße Dekoration waren.
Was er empfunden hatte, als er ihren Arm berührt hatte, mit ihr geredet hatte, war anders als alle Gefühle, die je eine Frau in ihm geweckt hatte, ganz zu schweigen von einer Frau, die er befragen sollte. Ihm war noch nie ein Mensch untergekommen, der ihn von seiner Arbeit ablenken konnte. Das war nicht einmal seiner Frau gelungen. Außer im Bett hatte er nie die Erwartungenund emotionalen Bedürfnisse einer Frau erfüllen können. Klar, dieses Versagen war nicht ungewöhnlich bei Männern, insbesondere bei Cops, doch Mac brillierte in dieser Hinsicht geradezu. Das war auch der Grund, warum er sich geschworen hatte, seine Beziehungen mit Frauen kurz, unkompliziert und emotional unbeteiligt zu halten.
Offen gestanden, er hasste Versagen. In jeder Form.
Natalies Bedürfnisse gingen offenbar über die von Durchschnittsfrauen hinaus. Hatte das seinen kleinen Freund interessiert? Nein. Ganz im Gegenteil. Natalie hatte wohl kaum versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, doch ihr kratzbürstiges Verhalten und der Körper unter ihrer schweißnassen Sportkleidung hatten trotzdem ein Sehnen in ihm wachgerufen. Und zwar, bevor er wusste, dass sie blind war.
Ihr Sehvermögen oder vielmehr ihr -unvermögen hätte ihn im Grunde eher abschrecken sollen, aber in dem Moment, als er erkannte, dass sie blind war, überkamen ihn Mitgefühl, Bewunderung und – so gern er es auch abgestritten hätte – eine Begierde, die sich so steigerte, dass ihm regelrecht schwindlig wurde.
Ihre Blindheit war nicht der Grund dafür, dass er sie begehrte, allerdings fügte sie eine andere Dimension, eine Prise Intensität zu der Erregung hinzu, die ihn gleich wieder überfiel, sobald er ihr Bild auf der Internetseite betrachtete.
Ein Bedürfnis erkannte das andere.
Sie bedurfte eindeutig menschlichen Kontakts, menschlicher Zuwendung, der Zärtlichkeit eines Mannes zur Erinnerung daran, dass sie eine leidenschaftliche, attraktive Frau war. Seine Urtriebe brüllten, dass er dieser Mann sein wollte.
Um diese Triebe zum Schweigen zu bringen, zwang er sich, das Gespräch noch einmal Revue passieren zu lassen. Ihre Erklärung, dass sie aufgrund der einbrechenden Erkrankung beruflich eine Pause eingelegt hatte, leuchtete ein. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sie Officer Munoz im Hinblick auf ihre Blindheit belogen hatte. Klar, es handelte sich eher um ein Verschweigen als um eine Lüge, in Anbetracht der Wahrungihrer Privatsphäre auch durchaus verständlich, aber immerhin eine Lüge. Zum Teufel, sie hätte auch Mac gehen lassen, ohne ihm etwas davon zu sagen. Wenn er dem Mann, der diese Blutergüsse und Fingerspuren auf ihrer Haut hinterlassen hatte, das Handwerk legen sollte, musste Mac alles wissen, was sie wusste.
Und noch etwas musste er in Betracht ziehen.
So lächerlich sie auch erschien, sosehr sie auch seinem Bauchgefühl widersprach, blieb doch die Frage, ob Natalie irgendwie mit dem Mord an Lindsay zu tun haben könnte. Hatte sie mit jemandem zusammengearbeitet? Vielleicht sogar mit Alex Hanes?
Mit einem Mann, der sich dann gegen sie
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