Haunted (German Edition)

schwer und dreimal so umfangreich wie diese allgemeinen Multiple-Choice-Ratespiele, die wir lehren sollen.« Er beugte sich nach vorn. »Seit über zehn Jahren jetzt macht Amerika die Lehrer zu Sündenböcken: ›Wir fallen hinter die Chinesen, Japaner und Koreaner zurück, weil es zu viele schlechte Lehrer gibt, und wir können sie nicht loswerden, weil sie eine Festanstellung haben. Oh, und sie treiben das Land in den Bankrott, weil sie gute Pensionen haben.‹ Na ja, die Lehrer in China, Japan und Korea haben Festanstellungen und gute Pensionen! Hat das ihr Bildungssystem zum Scheitern gebracht? Nein. Weil ihre Gesellschaften Bildung schätzen! Sie behandeln ihre Lehrer mit Respekt. Wie soll man erwarten, dass amerikanische Schüler uns mit Respekt behandeln, wenn ihre Eltern es nicht tun, wenn Politiker es nicht tun, wenn die Medien es nicht tun, wenn alles, was sie hören, ist, wie schlecht die Lehrer in unserem Land sind? Wissen Sie was? Die asiatischen Kinder in meiner Klasse schneiden genauso gut bei diesen standardisierten Tests ab wie diejenigen in Asien. Wissen Sie warum? Weil ihre Eltern sie dazu bringen, zu lernen und ihre Hausaufgaben zu machen. Wenn das jedes Elternteil täte, würden wir vielleicht nicht so weit zurückfallen!«
    »Wir kommen hier ein wenig vom Thema ab«, meinte Claire leise.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Aber ich bin ein guter Lehrer. Das war ich schon immer. Und der Grund, dass ich entlassen wurde, sind nicht die Testergebnisse meiner Schüler. Das ist nur ein Vorwand; das ist nur die Entschuldigung, die sie angeben. Der Grund ist, dass ich echte Geschichte unterrichte. Ja, ich unterrichte das Vorgeschriebene. Aber ich gehe tiefer. Und wenn man heutzutage auch nur irgendwie von der Parteilinie abweicht, wird man dafür bestraft. Früher wurde Initiative belohnt; heute wird sie nicht nur zu verhindern versucht, sie wird bestraft.«
    »Aber die Testergebnisse Ihrer Schüler sind schlechter geworden, seit Sie angefangen haben, diese ›echte‹ Geschichte zu unterrichten. Ich habe sie hier vor mir.«
    »Klar«, gab er zu. »Wissen Sie warum? Weil ich vom Unterrichten von Ehrengeschichte auf normale Geschichte gewechselt habe.« Er beugte sich erneut nach vorn. »Wissen Sie, wie Politiker davon sprechen, wie wichtig leistungsorientierte Bezahlung und die Belohnung von ›guten‹ Lehrern seien? Na ja, die ›guten‹ Lehrer sind diejenigen, deren Schüler in den standardisierten Tests gut abschneiden. Und hier ist das dreck-
ige kleine Geheimnis: Lehrer, die die klugen Kinder unterrichten, haben Schüler, die bei diesen Tests besser abschneiden im Vergleich zu den Lehrern, die die schwachen Schüler unterrichten. Ich war einer dieser ›guten‹ Lehrer. Jetzt bin ich es nicht. Weil mir der Direktor eine andere Klasse zugeteilt hat. Nicht, weil mich auf einmal meine Lehrerfähigkeiten verlassen haben. Und nicht, weil ich den Unterrichtsstoff der Klasse erweitert habe, indem ich Informationen außerhalb des Schulbuchinhalts beigefügt habe.«
    Claire nickte. »Okay.«
    »Werden wir also klagen?«
    »Ich denke, Sie haben eine legitime Beschwerde, und es ist durchaus möglich, dass wir Ihren Job zurückbekommen können. Aber das ist auf gar keinen Fall eine bombenfeste Sache. Richter und Jurys, wenn es so weit kommt, sind bekanntermaßen unzuverlässig. Es ist nicht so, wie Sie es aus dem Fernsehen kennen. Es besteht die Möglichkeit, dass das Gericht gegen Sie entscheidet. Dann sind Sie nicht nur Ihren Job los, sondern auch ziemlich viel Geld.«
    »Aber Sie glauben, dass ich eine Chance habe?«
    »Ich glaube, Sie haben eine Chance.«
    »Machen wir es!«
    Sie nickte. »Okay. Wir schnappen sie uns. Solange Sie die Risiken kennen.«
    Er lächelte. »Was ist ein Leben ohne ein wenig Risiko?«
    Claire stand auf, und sie bekräftigten es mit einem Handschlag. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, sich eingehend mit dem Unterrichtsmaterial des Lehrers zu befassen – sie hatte sich eher auf die Gesetzlichkeit seines Falls konzentriert –, aber sie wusste aus den Gesprächen und aus dem kurzen Durchlesen seiner Klassennotizen, dass die »echte« Geschichte, die Oscar Cortinez unterrichtete, Völkermassaker und sehr üble Taten von einigen sehr berühmten Männern beinhaltete. Sie wusste nichts darüber. Als sie Mitte der achtziger Jahre hier zur Schule gegangen war, handelte es sich um eine viel fröhlichere Version der Stadtgeschichte, die man ihnen vorgekaut hatte. Was bedeutete, dass sie viel