Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)
kopfschüttelnd an ihnen vorbeizugehen und mir Sachen anzuhören wie »Ey Alter, bist du unfreundlich!«.
Wirklich hungrig sind die Kinder in den meisten Fällen natürlich nicht. Aber während, wie bereits erwähnt, Langeweile das beherrschende Problem dieser Hinterhofpopulation darstellt, ist die Kompensation selbiger die einzige, tagesfüllende Tätigkeit. Dabei legten die Kleinen anfänglich ein sehr klischeehaftes Verhalten an den Tag. Wenn ich zum Beispiel aus meinem Hinterhaushochstand hinuntersah, war es, als sähe ich eine türkische Adaption der Kleinen Strolche. Es wurden Briefkästen angezündet, Mülltonnen umgeschmissen, Einkaufswagen, Kinderwagen und Gehwägelchen die Kellertreppe hinuntergestoßen, und es wurden Fensterscheiben eingeschlagen: auch gerne mal die eigenen. Besonders unterhaltsam waren die aus Langeweile entstandenen Wandbemalungen. Während mein kindliches Wachstum mit Strichen und Datumsangaben an unserer Wohnzimmerwand verewigt wurde, lassen sich die Wachstumsfortschritte meiner Hinterhofkinder an den Wänden in unserem Hausflur verfolgen. In Bodennähe schmücken noch bunte, aber unförmige Kritzeleien den rauen Putz. Wenige Zentimeter darüber, etwa in Kniehöhe, sind aus den Kritzeleien konkrete Objekte geworden: Blumen, Häuser, Penisse. In Hüfthöhe wird das Farbspektrum reduziert, und die Objekte wandeln sich zu ersten Buchstabengruppen, die Vornamen wie »Hassan« oder Lieblingswörter wie »Scheise« vermuten lassen. In Brusthöhe schließlich erscheinen dann die ersten vollständigen Satzkonstruktionen, zum Beispiel: »Ich ficke Düriye«, bis Sätze wie dieser in Schulterhöhe durch dadaistische Experimentalgrammatik auf einen Höhepunkt getrieben werden: »Jenny, du tust von uns gefickt werden.« Es bleibt dabei dem Leser überlassen zu entscheiden, ob es sich hierbei um den fehlerhaften Gebrauch des Futur I oder sozial-literarischen Widerstand gegen das Establishment handelt.
Nun ist die selbstgeschaffene Literatur mitunter ein sehr kurzweiliges Vergnügen. Also üben sich die Kinder regelmäßig in immer neuen Ausdrucksformen ihres Kreuzzuges gegen die Langeweile. Vor drei Wochen zum Beispiel haben die Kleinen mit vereinten Kräften in einem 30-Sekunden-Akt alle Bewohner des Seitenflügels von ihrem Kabelanschluss befreit. Ich habe leider nicht genau verstehen können, was »Hau Ruck!« auf Türkisch heißt. Allerdings war dieser belustigende Akt des Vandalismus ein Schnitt ins eigene Fleisch, da er auch den eigenen Vater seiner geliebten Feierabendunterhaltung beraubte.
Seit diesem folgenschweren Tag hat die anhaltende Langeweile der Kinder ein jähes Ende gefunden. Die Kinder werden nun jeden Morgen in drei Gruppen unterteilt: Gruppe 1 besteigt in den frühen Morgenstunden den grünen Lieferwagen des Vaters und wird im Laufe des Tages in den verstreutesten Winkeln Berlins Haushalte auflösen, Keller entrümpeln, Sperrmüllhaufen abtragen, aufschichten und die Hinterhöfe der Stadt nach verwaisten Möbelstücken durchforsten. Gruppe 2 dagegen wird zeitgleich die Ausbeute des Vortages auf Vordermann bringen. Sie wird schrauben, bürsten, wischen, polieren und den mit Teppichen ausgelegten Hinterhof so lange mit Wasser fluten, bis auch die letzten Flecken Katzenpisse hinausgespült und zwischen den Betonplatten versickert sind. Gruppe 3 aber wird nach dem Frühstück in die Schule geschickt. Sie ist es, die jeden Morgen dreinschaut, als hätten sie, von allen Kindern, das schwerste Los gezogen.
Damit auch jedes der Kinder die Freuden der anderen zu schmecken bekommt, hat sich der Vater darüber hinaus ein gewinnmaximierendes Rotationssystem überlegt. Dreifelderwirtschaft in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Seitdem herrscht Ruhe in unserem Hinterhof. Kein Geschrei, kein Gebrüll, kein Kindergarten-Kreuzberg-Feeling mehr. Und wenn ich jetzt am frühen Nachmittag aus den Federn krieche und meinen ersten Blick aus dem Fenster tue und sehe, wie die Kinder in unserem Hof herumliegen, als hätten sie Malaria und Ebola, dann ist das keine Langeweile mehr, sondern lieblich süße Feierabendmüdigkeit.
SAMSTAG
Am frühen Morgen willkommene Ablenkung. Im Briefkasten die Kopie eines Arztbriefes meiner Mutter. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihrem Arzt misstraut und lieber noch die Meinung eines Hypochonders einholt, der ganze zwei Semester lang Medizin studiert hat. Ich muss allerdings zugeben, dass ich diesen Arztbrief wirklich besorgniserregend
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