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Haus aus Erde

Haus aus Erde

Titel: Haus aus Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woody Guthriie
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an die Tausende Male denken, da er seine Leute hatte sagen hören: »Dieses Kind wird mit Kräften und mit Kenntnissen begabt sein, weil es mit einem Schleier über dem Gesicht geboren wurde.« Oder: »Diese Frau kennt die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, und sie kann deine Gedanken lesen, weil sie eine verschleierte Geburt hatte.« Hunderte solcher Sprüche hatte er sie sagen hören. Wie viel er davon glaubte, wusste er in diesem Augenblick selbst nicht, aber als er den unverkennbaren Schleier über Kopf und Gesicht sah, fühlte er den Stolz der Plains wie einen Wind durch sich hindurchwehen.
    Schon waren die Schultern zu sehen, der Bauch kam schneller, die Hüften etwas langsamer, dann legte Blanche ihre Hände flach unter den Rücken des Babys und hob ohne größere Anstrengung seine Beine heraus. Je schneller es sich herausbewegte, desto besser fühlte sich Tike. Mit jedem Zoll, den das Baby aus Ella heraus in Blanches Hände glitt, durchlebte er mehrere Jahre seines Lebens. Und Blanche schien sich in dem Zimmer so heimisch und behaglich zu fühlen, wie Grandma Hamlin sich gefühlt haben musste. »Wird sie’s fallen lassen? Lass es nich runterrutschen. Halt’s fest. Mach’s nich kaputt. He, du lässt den Kopf zu weit nach hinten sacken. Pass auf die Füße auf, die sind ja ganz mit Schmiere bedeckt. Was is n das für Zeug?« Er spürte, wie Ella May den Stiel des Besens losließ, und sah ihre Hände aufs Kopfkissen sinken. Da stellte er den Besen in die Ecke und trat ein paar Schritte um Blanches Rücken herum an die Bettkante. Er versuchte, alles auf einmal zu erfassen, dann schüttelte er so lange den Kopf, bis er seinen Atem unter Kontrolle hatte, und fragte Blanche: »Pppssssttt. Was is n das alles für extra Zeug da? Gott. Irgendwas is furchtbar schiefgegangen.« Er nickte zu dem Baby hin. Blanche bettete den Kopf des Babys auf Ellas Schenkel, säuberte sein Gesicht und rieb mit der linken Hand Ella Mays Bauch. Als Tike drei oder vier große fleischige Organe, Darmstränge und geplatzte Wasserblasen sah, hatte er das Gefühl, als ob Sonne und Monde von hundert Sonnenstichen durch seine Augen segelten, und als er sah, wie sich durch die äußeren Schamlippen mehr und mehr Gewebe aus Ella Mays Schoß hervorarbeitete, fühlte er sich noch schwächer. Überall auf Blanches Händen und Armen, auf dem Baby, auf Ella Mays Schenkeln und Hüften war eine fettige Schmiere zu sehen, und um den Leib des Babys auf der Gummiunterlage hatten sich Lachen gebildet, tief wie Dominosteine. Er atmete so laut und schluckte so schwer, dass Blanche ihn hörte. Sie wusste, weshalb er beunruhigt war, und sagte zum Scherz: »Vielleicht wär’s gut, wenn Sie auch mal an dem Chloroform riechen.«
    »Ja.« Tike nahm den Scherz ernst. Er hielt sich das Papier mit der Watte vor die Nase und atmete tief ein. »Puh! Gott! Was für n Geruch. Ahhh. Stimmt was nich? Was is n das Zeug da? Alles in Ordnung, Blanche?« Er zeigte auf das Bett.
    Blanche sah seinen Finger zittern und antwortete ihm: »Ja. Das ist die Nachgeburt. Alles in Ordnung. Gleich kommt noch mehr. Legen Sie das Chloroform weg. Sonst schweben Sie mir noch durch die Decke davon.«
    »Ich wünschte, ich könnt’s«, erwiderte ihr Tike.
    »So sollte Ihnen aber nicht zumute sein. Seien Sie nicht so niedergeschlagen. Schauen Sie nur. Sie sind der stolze Vater eines schönen, großen, kerngesunden Jungen. Sehen Sie? Gesund und munter!« Sie hob das Baby wieder in die Höhe und entfernte alles überflüssige Gewebe. Mit beiden Händen hielt sie das Baby so hoch, wie die Nabelschnur es erlaubte. Dann blies sie ihm ihren Atem ins Gesicht und versetzte dem kleinen rot-violetten Körper mit der rechten Hand einen Klaps. Tike machte einen Schritt und wollte ihr das Baby aus den Armen nehmen, denn noch nie hatte er gesehen, dass ein Kind so fest geschlagen wurde. Als er näher trat, schob Blanche ihn mit dem linken Ellbogen beiseite und blies dem Baby noch einmal ins Gesicht. »Komm, komm, komm. Komm, komm, komm. Aufwachen, aufwachen, aufwachen. Aufwachen, aufwachen, aufwachen, du. Hier. Pssttt. Zeit zum Aufwachen. Pust!« Und Tike hörte, wie sie fester und lauter auf die runzlige dünne Haut des Körpers einschlug. »Pust. Pust. Pust!« Blanche vollführte mit dem Baby rasche Bewegungen.
    Und als Tike Hamlin so dastand – gekränkt, verletzt, ängstlich, nervös, stolz, froh, elend –, zitterte in seiner Seele mehr als nur die Hitze und die Kälte und der Hagel und

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