Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
Vom Netzwerk:
Kaminsims zeigte zehn nach neun.
    Ich setzte mich mit einem Ruck auf. Das war doch nicht möglich. Ich hatte mindestens eine halbe Stunde mit den Townsends verbracht, wenn nicht länger. Und doch war dieser Uhr zufolge Großmutter gerade erst hinausgegangen.
    Ich drückte beide Hände auf die Augen und stöhnte laut. Was war nur mit mir los?
    War ich vielleicht einfach hier im Sessel eingeschlafen, hatte einen Traum gehabt und war dann mit dem Gefühl erwacht, er wäre real gewesen? Traumforscher, so erinnerte ich mich, behaupteten, der Durchschnittstraum dauere nur zwanzig Sekunden, auch wenn es dem Träumer danach schien, als hätte er viel länger gedauert. War es also ein Traum gewesen?
    Hatte sich meine Phantasie von Großmutters Erzählungen und ihren alten Fotografien anregen lassen? Waren all diese Geschehnisse, die mir so real erschienen, nichts als Träume?
    Ich ließ die Hände in den Schoß sinken. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, Gewißheit zu erlangen! Ich mußte wissen, ob ich an Halluzinationen litt oder ob das alles Wirklichkeit war. Aber wie sollte ich das zuwege bringen?

    Ich starrte auf meine Hände und ging noch einmal alles durch, was ich soeben miterlebt hatte. Ich sah den wieselflinken Mr. Cameron vor mir, die stattliche Mutter, den imposanten Vater. Ich hatte noch den beißenden Geruch des verbrannten Magnesiumpulvers in der Nase. Während ich mir jedes Detail noch einmal ins Gedächtnis rief, kam mir plötzlich die Erleuchtung: Die Familie hatte sich fotografieren lassen!
    Natürlich! Da lag die Antwort. Ich konnte sie im Familienalbum der Townsends finden, von dem Großmutter gesprochen hatte. War es möglich, daß das Gruppenbild, dessen Aufnahme ich soeben beobachtet hatte, sich in dem Album befand? Und wenn das der Fall war...
    Plötzlich mußte ich unbedingt dieses Album finden. Auf der Stelle. Ich mußte es sehen. Die verblichenen braunen Aufnahmen lang verstorbener Menschen würden mir die Antworten geben, die ich suchte.
    Wenn dieses Gruppenbild der vier Townsends im Album zu finden war, würde mir das die Gewißheit geben, daß ich in der Tat ein Fenster in die Vergangenheit entdeckt hatte.
    Obwohl es mir widerstrebte, in den Sachen meiner Großmutter herumzukramen, stand ich schließlich auf und ging zum Büffet. Und nachdem ich einmal die erste Schublade aufgezogen hatte, begann ich zu suchen wie eine Besessene.
    Eine Viertelstunde lang wühlte ich zwischen Nähkästchen, Handschuhen, altem Silber und Unmengen von Souvenirs, die meine Großmutter im Laufe ihres Lebens gesammelt hatte.
    Dann hockte ich mich verzweifelt und mutlos auf den Boden neben dem Büffet. Das Album war nirgends.
    Aber damit wollte ich mich nicht zufrieden geben, und nachdem ich ein paar Minuten lang still vor mich hin gewütet hatte, begann ich von neuem zu überlegen und hatte bald einen Einfall. Aber willkommen war er mir nicht; eher machte er mir angst. Ich hob den Blick zu der Wand hinter dem Sofa und starrte sie so intensiv an, als könnte ich durch sie hindurch in das Zimmer auf der anderen Seite sehen. Gleichzeitig gingen mir Großmutters Worte vom ersten Abend durch den Kopf. »Den früheren Salon benutzen wir schon seit vielen Jahren nicht mehr. Mindestens zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre. Seit William geheiratet hat und ausgezogen ist. Wir brauchen ihn nicht mehr. Wir können ihn nicht heizen, darum benutzen wir ihn als Abstellraum.« Langsam stand ich auf. Erst am vergangenen Abend, als ich nach der Begegnung mit der weinenden Harriet im oberen Schlafzimmer wieder heruntergekommen war, hatte ich jemanden auf dem Klavier ›Für Elise‹ spielen hören. Die Klänge waren aus dem Salon gekommen. Kamen sie immer aus diesem Raum, wenn ich sie hörte? Und wenn ja, wer spielte auf dem Klavier? Ich holte einmal tief Luft und wischte mir die feuchten Hände an den Jeans ab. So groß meine Furcht war, mein Verlangen, das Album zu finden, war stärker. Zögernd noch ging ich zur Tür und zog sie leise auf.
    Vor mir lag wieder der finstere Flur wie eine unermeßlich große schwarze Höhle. Mit weit geöffneten Augen trat ich hinaus und hatte das unheimliche Gefühl, in einen Tunnel hineinzugehen, der kein Ende hatte. Hinter mir befanden sich die Wärme, das Licht und die Geborgenheit des Wohnzimmers; vor mir warteten bedrohliche Finsternis und Eiseskälte. Und dennoch war die Anziehungskraft des Nebenzimmers stärker als alle meine Bangnis. Im Familienalbum der Townsends würde ich endlich die

Weitere Kostenlose Bücher