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Haus der Erinnerungen

Haus der Erinnerungen

Titel: Haus der Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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verstohlen hinter ihren gebauschten Rock schob und dabei den Körper ein klein wenig drehte, als wolle sie etwas vor ihrem Bruder verbergen.
    Dann sah ich es. In der anderen Hand hielt sie einen zweiten Brief, den sie jetzt, als John den Blick auf Victors Schreiben richtete, hastig in eine Tasche ihres Rocks schob. »Was schreibt er?« fragte sie ein wenig zu laut. John las schweigend weiter, dann reichte er Harriet den Brief. »Hier, lies selbst. Schreibst du ihm, Harriet?«
    »Natürlich. Wenn es schon von euch keiner tut.« Sie nahm den Brief und las begierig.
    »Ach, John!« rief sie dann bestürzt. » Er will nach Edinburgh gehen.«
    »Nur wegen dieses Lister«, sagte ihr Bruder und wandte sich zum Feuer. »Wegen dieses Emporkömmlings.«
    »Mr. Lister ist ein großartiger Arzt, John. Er hat die Königin betreut, als sie sich der Armoperation unterziehen mußte. Er ist kein Emporkömmling.«
    »Vor zehn Jahren war man in London noch bereit, ihn fallenzulassen, falls du dich erinnerst, wegen seiner Befürwortung der Vivisektion und der Unverschämtheit, die er sich der medizinischen Fakultät gegenüber erlaubte. Er hat das King's College praktisch als mittelalterlich bezeichnet.«
    »Dazu kann ich nichts sagen, John, aber diesem Brief nach zu urteilen hat Mr. Lister Victor davon überzeugt, daß es für ihn das beste sein wird, nach Schottland zu gehen.«
    »Und außerdem ist er Atheist.«
    Harriet schüttelte den Kopf, während sie weiterlas. »Mr. Lister ist Quäker, John. Nur weil man nicht der englischen Staatskirche angehört, ist man noch lange kein Atheist. Oh, aber hier schreibt Victor von Experimenten. Von Forschung!« Entsetzt sah sie John an. »Ich dachte, er wollte Arzt werden, nicht Wissenschaftler.«
    »Heutzutage gibt es da kaum noch einen Unterschied. Glaub mir, Harriet, Victor weiß nicht, was er will. Wenn du mich fragst, diese ganze Karbolsäure hat ihm das Hirn vergiftet.«
    »Aber John!« Sie sah wieder auf den Brief. »Er schreibt, daß er schon eine Anstellung hat und ein gutes Gehalt bekommen wird.«

    John verschränkte mit geringschätziger Miene die Arme und lehnte sich an den Kaminsims.
    »Wird auch langsam Zeit. Er lebt jetzt immerhin seit drei Jahren von der Krone.
    Während ich in dem verflixten Stahlwerk schufte, hol's der Teufel. Victor hatte immer schon einen Größenwahn. Ich glaube, er sieht sich bereits als zweiter Louis Pasteur.«
    »Aber wäre es nicht wunderbar, wenn er ein Heilmittel gegen eine Krankheit finden würde, gegen die es bisher nichts gibt, John? Die Cholera zum Beispiel.«
    »Jetzt verteidigst du ihn plötzlich. Entschließ dich endlich - willst du, daß er nach Schottland geht, oder willst du, daß er heimkommt?«
    Sie ließ die Hand mit dem Brief sinken und seufzte. »Ich weiß es ja selbst nicht. Ich hatte gehofft, er würde nach Warrington zurückkommen und sich hier niederlassen. Aber wenn er in Schottland glücklicher ist -«
    »Wer kann in dem gottverlassenen Land glücklich sein?« Harriet drehte sich plötzlich um, als hätte sie ein Geräusch gehört. »Ich glaube, der Fotograf ist hier. Ich sag Mutter Bescheid.«
    Sie lief aus dem Wohnzimmer in die Küche, aus der sie gleich darauf mit einer älteren Frau zurückkehrte. Mrs. Townsend, Victors Mutter, war eine stattliche Frau mit wogendem Busen. Ich dachte bei ihrem Anblick und ihren Bewegungen unwillkürlich an eine Dampfwalze. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen und einer voluminösen Turnüre. Das Gesicht der Frau wirkte hart. Ihm fehlte jeder Reiz, und sie tat offensichtlich nichts, um es zu verschönern. Auf dem zum Knoten gedrehten vollen Haar saß ein kleines weißes Häubchen, das ihr das Aussehen einer Königin Victoria in Übergröße verlieh.
    Ich hörte stolpernde Schritte und lautes Poltern an meiner Seite, und als ich den Kopf drehte, sah ich den Fotografen eintreten, einen maulwurf sähnlichen Mann mit buschigem Schnurrbart und ölgeglättetem Haar. Ächzend und stöhnend schleppte er mehrere unhandliche Kästen ins Wohnzimmer.
    »Sie sind sehr pünktlich, Mr. Cameron«, sagte Mrs. Townsend lobend. »Mein Mann wird sofort herunterkommen.«
    »Wir werden gleich alles vorbereitet haben, Madam. Heimporträts sind mein Geschäft, da habe ich Übung im schnellen Aufstellen der Geräte.«
    Gemeinsam sahen wir zu, wie Mr. Cameron flink wie ein Wiesel seine Geräte in der Mitte des Zimmers aufstellte. Erst kam das dreibeinige Stativ, dann folgte die ziehharmonikaähnliche Kamera mit

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