Haus der Jugend (German Edition)
du so mutig bist«, riss mich Darius aus meinen Gedanken. »Aber auch dein Ärger über Fritz wurde aus Angst geboren. Aus deiner Angst vor Ungerechtigkeit, aus deiner Angst, deinen Praktikumsplatz zu verlieren und dadurch letztlich ohne Ausbildung dazustehen. Vielleicht siehst du uns unsere Angst ja nach, wenn du darüber nachdenkst?«
Hieß das nun Bleiben oder Gehen?
»Ich finde ihn einfach nicht attraktiv.«
Endlich lächelte Darius wieder. »Wer achtet schon auf Attraktivität beim schnellen Sex. Nein, du hast Angst – Angst, er würde dich sofort verraten und alle Schuld auf dich schieben, um seine Haut zu retten, sollte man euch erwischen. Die Angst ist nicht unberechtigt, genauso wenig wie die Wut, die du darauf hast. Und vielleicht ist Fritz zu feige. Aber ist es mutiger, nicht zur Toilette zu gehen, weil er dort warten könnte?«
»Hat dir das auch mein Körper erzählt?«
»Er erzählt alles«, sagte Darius immer noch lächelnd. »Wenn du möchtest, bringe ich es dir bei.«
»Ist es nicht unheimlich? Ich gebe zu, es fasziniert mich, aber ich stelle es mir grässlich vor, wenn mir ein Körper beim Sex die Lebensgeschichte erzählt. Ich möchte gar nicht alles wissen.«
Gehen. Ich entschied mich, zu gehen. Ich könnte keine Gemeinsamkeit spüren, keine Einigkeit. Ich würde verkrampfen und versuchen, meinen Körper zum Schweigen zu bringen.
»Es ist schön, sich ganz auf Menschen einzulassen«, antwortete Darius. »Es ist der wahre Sex. Es ist das, was ich gestern mit dir gespürt habe.«
Ich sah ihn an, suchte nach der Liebe in meinem Blick, nach dem Gefühl, das ich hatte, als ich am Morgen zum Theater gegangen war, als ich mit den Einkäufen für uns vor ihm gestanden und ihn betrachtet hatte. Doch die Liebe war verschreckt, hatte sich in einen Winkel meines Körpers verkrochen, in dem ich sie nicht finden konnte. Könnte er sie hören, wenn er mich jetzt berührte?
Darius stand auf, holte mir den Dufflecoat von der Garderobe, zog den Schal aus dem Ärmel und legte ihn mir um den Hals, hielt mir den Mantel hin wie ein perfekter Gentleman. »Es ist gut, wenn du nicht über Nacht bleibst. Dann werden die Nachbarn nicht misstrauisch.«
Woher wusste er, dass ich gehen wollte? Ich hatte doch nur überlegt.
»Bist du mir böse?«
»Nein.«
Ich wehrte den Kuss nicht ab, den er mir gab, bevor er die Wohnungstür öffnete. »Du bist es immer noch«, sagte er. Ich war mir nicht sicher, ob er es auch war, aber vielleicht wusste mein Körper ja schon mehr als ich.
Draußen zog ich alle Knöpfe des Dufflecoats durch die Schlaufen und den Schal fest um meinen Hals. Der Wind sollte nirgends hinkommen. Die Hände vergrub ich tief in den Taschen. Ich hatte es nicht weit bis zur Ohlmüllerstraße, in der sich mein Zimmer befand.
Ich wollte nicht nachdenken, nicht grübeln, sondern lieber meinen Kopf abschalten, doch der wollte es anders. Er wollte mir erst richtig ins Bewusstsein rücken, was ich eben erlebt hatte.
Während Darius über meinen Bauch gestrichen und mir darüber meinen Tag erzählt hatte, hatte ich in einer Art Dämmerzustand kaum gestaunt. Ich hatte es hingenommen, wie man Märchen hinnimmt oder Träume, solange man träumt. Und wie aus einem Traum wachte ich jetzt auf und dachte ›so ein Blödsinn‹. Anders als bei einem Traum wusste ich aber noch jedes Detail. Ich spürte nicht nur den leichten Druck seiner Finger, die Nachwärme der angenehmen Berührung, sondern ich sah Darius neben mir sitzen, hörte seine Stimme, die Worte, die er gesagt und die Vorwürfe, die er mir gemacht hatte.
Ich war durch die Oefelestraße gehend am Edlinger Platz angelangt. Meine Füße fanden den Weg allein. Den Kreisverkehr entlang bis zur Entenbachstraße, dann immer geradeaus. Wenigstens die Füße durften geradeaus. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Je genauer ich mich erinnerte, umso mehr wurde der Traum wieder Realität, umso ängstlicher wurde ich. Was hatte Darius alles gespürt? Wie weit gingen die Geschichten zurück, die er erfühlen konnte? Reichten sie bis zum Morgen des Heute oder weiter hinaus? Eine Woche, einen Monat, ein Jahr, ein ganzes Leben?
Egal, wie wenig man zu verbergen hat, es ist beängstigend, wenn jemand alles weiß, es ist, als dringt jemand in dein Privatestes vor: dich selbst. Vielleicht erlag ich dem Verfolgungswahn, der latenten Furcht vor Entdeckung, die bei einem Leben in der Illegalität zur Gewohnheit wird, zur ständigen Begleiterin auf allen Wegen. Jemand
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