Haus der Jugend (German Edition)
ich währenddessen immer still in der Ecke, lauschte seinen Tonleitern, seinen Etüden, seiner Musik, bis er den Deckel des Klaviers schloss und wieder Zeit für mich hatte.
Töne faszinierten ihn. Bei den Spaziergängen horchte er auf die Vögel, versuchte, deren Stimmen nachzumachen. Er achtete auf den Rhythmus der Schritte über den Waldboden, auf die Zweige, die unter unseren Schuhen knackten, und entdeckte eines Tages den Klang des Tannenzweigs, der auf eine raue Krachledernde klatschte. Er hat ihn nicht abgebrochen, sondern vom Weg aufgelesen, für ihn war mein Hosenboden die Trommel, auf der er unseren Marsch schlagen konnte. Und er hat mich gefragt, ob es mir etwas ausmachte, bevor er sie benutzte.
Ich genoss den rhythmischen Schlag der Zweige, die Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde, spürte nur ein leichtes Ziehen durch das dicke Nappaleder. Es war ein Spiel zwischen uns, wie jedes andere auch. Es war Musik, wie die Tonleitern, wie die Etüden, wie die Vögel im Wald und die Schritte über die Zweige. Bis der Pfarrer, der das Schullandheim leitete, Heinrich für das Spiel bestrafte. Ob er auch während der Schläge des Geistlichen auf den Rhythmus achtete, auf das Geräusch der Zweige und Nadeln, die auf die Haut seines Hintern klatschten, hat er mir nie erzählt.
Unruhig wälzte ich mich wieder in den Schlaf und in neue Träume. Meine Mutter neben mir unter der Decke, weit entfernt in meinem Bett schnarcht ein Mann, stößt manchmal Wörter aus, die ich nicht verstehe. Als träumte er in meinem Traum vom Krieg. Ein Frühstückstisch, meine Mutter auf dem Schoß des Soldaten, ein Amerikaner in Wehrmachtsuniform, das Haar so blond wie ein Hitlerjunge, Sommersprossen wie Heinrich, aber braune Augen. Mama zündet sich eine Zigarette an, die sie dem Soldaten in den Mund steckt. Ich stehe auf, hole einen Porzellanaschenbecher und stelle ihn auf den Tisch. Es riecht nach Karokaffee, Rauch und gebratenem Ei. Papa steht in der Tür und schimpft: »Verräter. Ihr seid alle Verräter.« Und dann tauschen sie Unterschriften. Papa willigt in die Scheidung ein, der Amerikaner in Papas Aufnahme in den Schuldienst. Karriere ein Tauschhandel, Überzeugung ein alter Ledermantel – zum Glück nur ein Traum.
Papa geht aus meinem Traum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich bin verloren wie der Krieg. Mutter sieht nur Theodore, Papa nur Pflicht. – Wieder Heinrich, dieses Mal im Kommunionsanzug. Lehnt sich an mein Ohr, »wenn du artig bist, zeig ich dir ein Geheimnis«, wir laufen durch das Dorf, fort von Soldaten und Zigaretten, hinunter zum Bach. Die Beine der guten Hosen schleifen über matschigen Boden. Das wird Prügel geben. Heinrich wie damals im Wald, zieht die Hose runter, doch er bückt sich nicht, sondern zeigt mir das erste Schamhaar, einen winzigen Punkt, dunkler als das Haar auf seinem Kopf. Mein neidischer Blick, mein Begehren, ›darf ich mal anfassen? – Ja‹, mein Griff nicht an das Haar, sondern an den Penis, der schwillt und in meiner Hand bleibt, als Heinrich davon läuft.
Darius, erwachsen, zwanzig Jahre alt, ein paar Jahre jünger als ich. »Du bist es«, sagt er, sieht mir in die Augen, streicht mit der Hand über meine Brust. »Du bist es, der mich damals kastriert hat, der unbedingt meinen Penis anfassen wollte. Du warst schon damals abnorm, du bist es noch heute.«
»Das weiß ich doch. Ich kann es nicht ändern.«
»Ich liebe es abnorm. Ich fühle deine Abartigkeit, dein Körper erzählt mir davon.«
Wieder erwachen, wieder Licht, wieder der Weg an das Fenster – einatmen. Schritte nackter Füße lassen mich zusammenzucken, ein Blatt Papier weht von meinem Schreibtisch und segelt auf den Teppich. Ich drehe mich um. Darius steht vor mir in meinem Zimmer, nackt wie am ersten Abend in seiner Wohnung.
»Bist du verrückt? Man wird uns entdecken«, flüstere ich.
»Niemand wird uns entdecken. Die Träume sind frei.« Er kommt auf mich zu, nimmt mich in den Arm, sein steifes Glied stößt gegen meinen Bauch. »Hab keine Angst vor dem, was du mir erzählst. Ich liebe dich und dein Körper sagt mir, du liebst mich auch.« Er löst sich auf, ehe ich antworten kann, verschwindet im Mondlicht und für einen Moment glaube ich, sein Lächeln in den Hügeln und Tälern des Trabanten sehen zu können.
Träume ich ins Bett zurück oder lege ich mich hin? Schlafe ich wieder ein oder entlässt mich nur die Illusion des Wachens, bis der Wecker klingelt in die beruhigende Dunkelheit?
Ich
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