Haus der Jugend (German Edition)
Wahrscheinlich muss er sich als Koch viel bewegen. Vielleicht geht er auch, da er ohne Wohnung nicht weiß, wohin, nach der Arbeit ins Fitnessstudio oder ins Schwimmbad, um zu trainieren und sich zu waschen. Ich weiß es nicht und ich mag ihn nicht fragen, nicht jetzt. Ich warte auf den ersten Strahl, habe Mühe, mich unter seinem Blick aufs Pinkeln zu konzentrieren. Lieber sehe ich ihn an, so jung, so kräftig, so unverändert und doch so verändert, dass er wie ein junger Mann unserer Zeit wirkt. Er hat einen Steifen.
›Nein‹, denke ich, ›er muss den Unterschied doch sehen.‹ Dabei ist dieser Unterschied auch für mich längst in der Vertrautheit verschwunden, in der Sehnsucht nach alten Zeiten und in der Sehnsucht nach Darius, die über all die Jahre immer anwesend war.
Ich habe noch nie verstanden, warum so viele von uns so geil auf junges Fleisch sind. Ich stelle mir immer vor, mich eklig zu fühlen, weil mir meine Falten, die grob gewordenen Poren, die schlaff gewordene Haut, die unförmig gewordenen Proportionen noch bewusster werden, wenn ich mich an der glatten Haut der Jugend reibe. So gut sich die für mich anfühlen möge, ich könnte nicht ausblenden, wie ich mich für so einen jungen Menschen anfühlen muss. Für mich war es immer undenkbar. Ich habe mir immer lieber Männer meines Alters gesucht, sie durften auch älter oder ein bisschen jünger sein, aber die Jugend und die Jungfräulichkeit des Gegenübers erschienen mir immer erschreckend.
Ich sehe weg, komme mir vor wie ein Freier, der sich die Unterkunft bezahlen lässt. »Was denkst du von mir?«, frage ich und stocke. Er ist kein Kind, vielleicht sogar älter als ich. Endlich ist die Blase leer. Darius ist mir so nah, dass ich kaum aufstehen und spülen mag. Ich tu es trotzdem, spüre seinen Körper, als ich mich umdrehe, die Hose hochziehe und schließe.
»Dass du mich als Mensch betrachtest, nicht als Körper. Für mich hat sich in den fünfzig Jahren nichts geändert. Du bist es immer noch.«
Ich möchte ihm auf die Schulter fassen, ihn in den Arm nehmen und mich von ihm in den Arm nehmen lassen. Ich möchte ihm Kraft geben und seine Stärke spüren, aber ich wage nicht einmal das, stehe nur nah genug vor ihm, seinen Atem in meinem Gesicht zu fühlen. »Genau darin liegt das Problem«, sage ich. »Ich kann nicht so tun, als gäbe es meine Falten nicht.«
Er fasst mich an, er legt mir die Hand auf die Schulter. »Für mich gibt es sie nicht.«
Wir gehen ins Schlafzimmer. Ich beziehe eine Steppdecke und ein Kissen für ihn, obwohl er meint, es wäre nicht nötig.
»Ich fühle mich wohler.«
»Bist du mir noch böse, dass ich einfach so verschwunden bin?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf. »Ich kann es dir nicht erklären. Ich bin dir nicht böse. Und manchmal fühlt es sich an, als hätte sich nichts geändert. Aber ich kann die Jahre nicht abschalten, die sich zwischen uns geschoben haben.«
Ich genieße seine Gegenwart, seine Atemzüge neben mir, die wärmende Energie, die er abstrahlt, die Hand, mit der er mein Gesicht streichelt.
»Schlaf gut«, sage ich und erwidere den Kuss, den er mir gibt. Ein Kuss ist in Ordnung, sogar einer auf den Mund. Obwohl ich noch wach bin, habe ich Angst, ich träume. Am Morgen werde ich bestimmt aufwachen, vielleicht sogar schon in der Nacht, mich durch die dunkle Wohnung noch einmal zur Toilette begeben, weil der viele Wein so treibt, wieder in mein leeres Bett kommen und mich fragen, wie ich nach so langer Zeit von Darius träumen konnte. Doch dessen Hand begleitet mich auf dem Weg in die wirklichen Träume dieser Nacht.
Griechenland in Geschichtsbildklitterung. Marmorne Säulen, nackte Statuen, die über marmorne Platten in den Palästen laufen, alte Männer mit langen Karl-Marx-Bärten und gewaltigen Geschlechtsteilen, Jünglinge, die aussehen wie Michelangelos David. Wer keinen Diskus oder keine Kugel trägt, liest, während er vorwärts geht, ohne hinzusehen. Ich, auf eine Vase gemalt, erdfarben, tiefe Augenhöhlen, dunkle Schatten, dicker als ich bin. Vor mir Darius, kniend, sich bückend, immer nackt, immer penetriert, mal in den Mund, mal in den Anus, aber nie erigiert. Für die Eleven der Griechen schickte es sich nicht, Lust zu empfinden, während ihnen die Ehre zuteilwurde, den Lehrern zu Diensten zu sein. Auch bei mir keine Lust, keine Erektion, nur Erschrecken. Wir reichen uns die Hände, fliehen nackt von der Vase, laufen über die Marmorfliesen vorbei an den Statuen
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