Haus der Jugend (German Edition)
antwortete ich und hielt meinen Blick unverwandt dem des Geistlichen entgegen. »Das ist die Bewertung der Heuschrecken und Schlangen.«
Mustern.
Beobachtende Stille, die mich zur Bewegung zwang. Unruhig wippte ich mit den Beinen unter dem Tisch, setzte mich aufrechter hin, versuchte mich so zu recken. Worauf wollte der Mann hinaus? Wollte er mir etwas erklären oder mich auf etwas bringen, meine Gedanken lenken, bis sie sich mit seinen deckten? Warum sah er mich so durchdringend an, als hätte ich etwas Falsches gesagt? Hatte ich das?
»Und deine Wertung?«
Endlich.
»Ich …«
»Antworte nicht zu schnell.«
Was dachte er, was wollte er von mir?
›Überlege!‹
Eine Aufforderung. Wenn ich zu schnell antwortete, hatte ich nicht überlegt.
›Versager, Kind, Lügner.‹
Was hatten die Heuschrecken und Schlangen alles gesagt?
›Du bist verdorben, unanständig, verkommen, kriminell – ein Sünder!‹
Die ganze Latte der Vorurteile, Gesetze, Moralvorstellungen. Das kurze Leben lang gehört. Der Priester im Verschickungsheim, als er mich nach Hause schickte, mein Vater, als ich dort ankam, meine Mutter, wenn sie über die vom anderen Ufer sprach, ohne zu wissen, ich gehörte dazu. Mein Chef, als er mich vor die Tür setzte, weil er wusste, ich gehörte dazu. Die Bergmosers, als sie mich fragten, ob es mir nichts ausmachte, jeden Tag über ›diesen Platz‹ zu gehen. Eingetrichtert, eingebläut, steter, Stein höhlender Tropfen, der durch die Materie bis ins Mark gedrungen ist. War es das, was der Pfarrer von mir hören wollte? Dachte ich so über mich?
»Nein«, sagte ich laut, zuckte über das Echo von den Wänden erneut kurz zusammen und schüttelte energisch den Kopf. Es schien, als flackerten die Flammen der Kerzen und der Petroleumlampe für einen Moment lang heftiger, würden die Schatten an der Wand lebendiger. War mein Kopf vom Rauch oder von den Gedanken so heiß, als hätte ich Fieber? »So denke ich nicht über mich. So will ich nicht über mich denken.«
Der Pfarrer lächelte. Schwieg, aber lächelte. Er nahm die Hand vom Tisch, schenkte sich Tee nach, trank einen Schluck und lächelte. »Schön«, sagte er, »ich wusste, du bist stark. Die Heuschrecken haben keine Chance.« Während er sprach, hielt er mir die Kanne hin, schenkte auf mein Nicken hin auch mir nach, stand auf, füllte den Kessel mit neuem Wasser und stellte ihn auf den Herd. Ich sah ihn an. Er war etwa fünfzig Jahre alt, sein Haar schon leicht grau. Seine Stirn war hoch, obwohl er keine Geheimratsecken hatte. Die Haut wies nur wenige Falten um die Augen und um den Mund auf. Seine Bewegungen waren gleichmäßig, manchmal etwas kantig oder zackig, als wäre er Soldat.
»Warum freuen Sie sich darüber?« Natürlich, sie führten einen Kampf um mich. Wenn ich den Heuschrecken nicht glaubte, nicht einsah, wie verdorben ich war, konnte er sich als Sieger fühlen, aber er war ein Pfarrer, für die Heuschrecken war ich Sünder.
»Wie meinst du das?« Er lehnte merkwürdig lässig mit dem Hintern an der Kante der Anrichte und wartete auf das Wasser. Sein Blick war nicht mehr so streng.
»Müssten Sie nicht mit den Heuschrecken kämpfen? Sie sagen doch nur, was Gesetze und Kirchen predigen. Warum beschützen Sie mich?«
Der Pfarrer lächelte weiter, goss das kochende Wasser in die Kanne, nutzte das Teesieb noch einmal für einen zweiten Aufguss, kommentierte entschuldigend »es steckt noch genug Geschmack in den Blüten«, stellte die Kanne auf den Tisch, setzte sich wieder, lächelte, sprach …
»Du bist klug«
… lächelte, nahm seinen Becher, trank den darin abgekühlten Tee, goss frischen nach, stand wieder auf, um einen Topf Honig zu holen, von dem er sich einen Löffel voll in das Getränk rührte.
»Wir beschützen nicht dich, wir beschützen uns.«
Lächeln.
Schweigen.
Warten.
Sogar die Flammen und Schatten verhielten sich ruhig.
»Sie beschützen mich, um sich zu schützen?«
Trinken. Ich wagte nicht, mir auch Honig in den Tee zu rühren, nicht einmal, danach zu fragen. Schluckend wartete ich auf die Antwort, ohne Vorstellung, was der Pfarrer gemeint haben könnte.
»So kann man es ausdrücken. Wir geben dir etwas und haben etwas davon. Du bleibst du. Für immer.«
»Was haben Sie davon?«
Lächeln.
Schweigen.
Warten.
Tee trinken.
»Du solltest schlafen gehen. Morgen hast du einen schweren Tag.«
Ein Ton, der keine Widerrede duldete, obwohl ich der Antwort noch harrte. Was hatte er davon, mich als Sünder zu
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