Haus der Lügen - 8
Hainryk Waignair bereit wäre, ihm zu eröffnen, warum man ihn in den Erzbischöflichen Palast zitiert hatte. Allein die Ortswahl ließ bereits vermuten, dass es um ein Thema von offizieller Natur ging, ja, sogar um eines, das mit der Kirche von Charis im Ganzen zu tun hatte. Schließlich vertrat der Bischof Erzbischof Maikel während dessen Abwesenheit. Es mochte natürlich auch mit Angelegenheiten des Königlichen Rates des Alten Charis zu tun haben. Denn auch dort war der Bischof Staynairs Stellvertreter. Doch davon abgesehen hatte Wylsynn keine Ahnung, worum es gehen könnte.
Jetzt stand er auf und folgte dem Unterpriester in das Arbeitszimmer des Erzbischofs.
Der Bischof erhob sich und streckte dem Besucher über den Schreibtisch hinweg die Hand entgegen. Der Intendant beugte sich über die ihm dargebotene Hand und küsste Waignairs Ring. Wylsynn konnte den Bischof wirklich gut leiden, und er respektierte ihn auch. Und trotzdem kam es Wylsynn irgendwie falsch vor, Waignair an Staynairs Schreibtisch sitzen zu sehen, und sei es auch nur vorübergehend.
Wie charisianisch bin ich eigentlich schon? , fragte sich Wylsynn selbst. Doch dann verdrängte er diesen Gedanken wieder, schob die Hände in die Ärmel seiner Soutane und blickte Waignair mit höflicher Aufmerksamkeit an.
»Ihr hattet nach mir geschickt, Mein Lord?«
»Ja. Ja, allerdings, Pater«, erwiderte Waignair und deutete auf den Sessel, neben dem Wylsynn stand. »Bitte nehmen Sie Platz!«
»Ich danke Euch, Mein Lord.«
Wylsynn setzte sich. Doch die ganze Zeit über wandte er nicht den Blick von Waignair ab. Der Bischof lächelte milde. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück, und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Mit der rechten Hand spielte er geistesabwesend an dem Zepter, das er um den Hals trug.
»Sie fragen sich gewiss, warum ich Sie heute zu mir gebeten habe, Pater.«
»Ich muss zugeben, dass mich diese Frage beschäftigt hat«, gestand Wylsynn, als Waignair nicht weitersprach.
»Es gibt sogar zwei Dinge, über die ich mit Ihnen sprechen muss, Pater.« Gewichtiger Ernst schwang in Waignairs Stimme mit. Wylsynn ertappte sich dabei, angestrengt die Augen zusammenzukneifen.
»Aber bevor ich darauf eingehe, Pater Paityr, möchte ich Ihnen noch einmal mein Beileid zum Tode Ihres Vaters und Onkels aussprechen. Ich möchte ungern erneut die Wunde aufreißen, die ihre Hinrichtung – nein, ihre Ermordung! – zweifellos hinterlassen hat. Aber mir bleibt hier keine andere Wahl, denn Ihr großer Verlust hat mit den Dingen zu tun, über die ich mit Ihnen sprechen möchte.«
Wylsynns Miene spannte sich an – vor Schmerz und Trauer, ja, aber auch aus Sorge um Lysbet und die Geschwister. Seit ihrem letzten Brief hatte Wylsynn nichts mehr von ihr gehört. Allerdings gab es auch keine Berichte, sie wären der Inquisition in die Hände gefallen. Das aber war nur ein schwacher Trost, denn Wylsynn wusste nicht, wo sie waren, wie es ihnen ging ... oder ob sie überhaupt noch lebten. Selbst jemand, der so sehr von Glauben und Gottvertrauen durchdrungen war wie er, konnte vor Sorge fast wahnsinnig werden.
»Zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen«, fuhr Waignair fort, »dass sich mein ohnehin schon profunder Respekt, den ich für Sie empfinde, noch gesteigert hat – mein Respekt vor Ihnen als Kind Gottes und als Sein Priester. Es war die Art und Weise, wie Sie mit den schlechten Nachrichten, die Sie erreicht haben, umgegangen sind.« Ruhig blickte der Bischof Wylsynn in die Augen. »Ob solcher Berichte mag man verzweifeln, vor allem wenn Nachricht darüber fehlt, was dem Rest der Familie widerfahren ist. Doch Sie sind nicht verzweifelt. Leicht hätte man nach dem, was den Freunden Ihres Vaters und ihren Familien passiert ist, Gott gezürnt, weil Er zugelassen hat, dass derart entsetzliche Verbrechen im Namen Seiner Kirche begangen wurden. Nicht Sie. Und trotz Ihrer eigenen Trauer, obwohl Sie nichts über den Verbleib Ihrer Brüder, Ihrer Schwestern und Ihrer Stiefmutter wissen, haben Sie keinen Moment lang Ihre Pflichten als Priester Gottes vernachlässigt. Erzbischof Maikel hat mir gegenüber mehrmals betont, wie hoch er Sie achtet. Ich möchte Ihnen sagen, Pater, dass ich im Laufe der letzten Monate immer besser verstanden habe – nein: endgültig verstanden habe –, warum er in dieser Weise über Sie denkt.«
Paityr Wylsynn wusste darauf nichts zu erwidern. Er kannte sich selbst einfach zu gut, um sich für den Heiligen zu halten, den
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