Haus der Lügen - 8
Manchyr. Als Erste der Prozession traten der Zepterträger und der Thuriferar in den Mittelgang. Süßlicher Rauch stieg aus dem juwelenbesetzten Turibulum, das an seiner goldenen Kette hin und her schwang. Dem Thuriferar folgten ein halbes Dutzend Kerzenträger, dann eine ganze Gruppe Akolythen und Unterpriester. Dahinter folgte der wahre Grund, weswegen die Kathedrale an jenem ganz speziellen Mittwoch so überfüllt war.
Hinter den Akolythen und Unterpriestern kam Erzbischof Maikel Staynair, Primas der Kirche von Charis. Der Chor der Kathedrale fügte wie mit einer einzigen machtvollen Stimme dem Orgelspiel Gesang hinzu. Wer dem Erzbischof nahe genug stand, konnte deutlich sehen, dass sich seine Lippen bewegten: Ihr Primas sang mit! Die Rubine seiner Krone leuchteten wie glühende Herzen im Licht der Morgensonne, das durch die Glasmalerei-Fenster der Kathedrale fiel. Es stach förmlich ins Auge, dass der Erzbischof einen ganzen Kopf größer war als Klairmant Gairlyng, der neben ihm den Mittelgang hinunterging.
Gemessenen Schrittes ließen sie sich vom Zusammenklang von Instrumenten und Stimmen das Kirchenschiff hinuntergeleiten. Gahrvai fragte sich, wie schwer das Staynair wohl fiele. Nach außen hin schien der Erzbischof gelassen. Trotzdem dürfte er die ganze Zeit über an das Attentat der Tempelgetreuen denken, das in seiner eigenen Kathedrale auf ihn verübt worden war – und an das, was hier in Manchyr vor nicht allzu langer Zeit Tymahn Hahskans widerfahren war.
Es war keine Überraschung, dass die Selbstbeherrschung des Erzbischof reichte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Gahrvais Mundwinkel zuckten, als er an das erste Zusammentreffen Staynairs mit seinem Vater und dem Rest des Regentschaftsrats zurückdachte (abzüglich Craggy Hill, den eine dringende lokale Angelegenheit nach Vahlainah zurückgerufen hatte – was dem Grafen, davon war Gahrvai überzeugt, sehr recht gewesen sein musste). Es war gewiss unziemlich, so vom eigenen Vater zu denken. Als Koryn Gahrvai sah, wie sich sein Vater dem Erzbischof gegenüber verhielt, war vor seinem innerem Auge das Bild eines alten, steifbeinigen Jagdhunds erschienen, dem der geschärfte Geruchssinn verriet, er stehe kurz davor, eine Peitschenechse aufzuspüren. Tartarian war gelassener geblieben. Aber auch sein Verhalten hatte deutlich Vorsicht, ja sogar Skepsis verraten. Dem Rest des Regentschaftsrats war es nicht viel anders gegangen.
Doch dieser Maikel Staynair hatte etwas ...
Sir Koryn Gahrvai fand keine Worte für seine Empfindungen. Dafür waren sie zu groß. Es hatte, nach Gahrvais Meinung, weniger mit dem zu tun, was der Erzbischof gesagt hatte, als vielmehr, wie er es gesagt hatte. Er hatte ganz offensichtlich einfach beschlossen, anzunehmen, die Mitglieder dieses Rates hätten ausschließlich die besten Absichten. Er wollte glauben, sie alle hätten ihren Eid in Treu und Glauben abgelegt, obwohl Cayleb – und auch der Erzbischof selbst – offiziell exkommuniziert waren. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, wirkte Staynair davon überzeugt, die erste Sorge des Rates sei, für das Wohlergehen der Corisandianer zu sorgen. Staynair hielt es augenscheinlich für selbstverständlich, dass diese Männer mit besten Absichten, wenn sie ein Problem erst einmal erkannt hätten, auch sofort nach einer passenden Lösung suchten.
Ebenso offenkundig war noch etwas anderes geworden: Sollte Staynair auch nur einen Funken von Intoleranz, Bigotterie oder Fanatismus besitzen, war er ein wahrer Meister darin, das zu verschleiern.
Das ist seine wahre Geheimwaffe , dachte Gahrvai jetzt. Er ist wirklich und wahrhaftig ein Mann Gottes. Ich glaube nicht, dass Maikel Staynair je Schwäche zeigen würde. Und doch ist es ganz offenkundig – für mich zumindest –, dass es Sanftmut ist, die ihn antreibt. Vielleicht ist im Augenblick diese Sanftmut gepaart mit echter Entrüstung über die Geschehnisse hier, doch es ist und bleibt Sanftmut. Niemand kann auch nur zwanzig Minuten in seiner Gegenwart verbringen, ohne das zu bemerken. Mit dem, was er glaubt und was er vertritt, mag er ja falsch liegen. Aber es steht völlig außer Frage, dass ihn eine tief empfundene, echte Liebe zu Gott und zu seinen Mitmenschen bewegt. Und was seine ›Geheimwaffe‹ so besonders effektiv macht, ist, dass es überhaupt keine Waffe ist . So ist er einfach. Natürlich gibt es da noch ...
Der Blick des Generals wanderte zur königlichen Loge. Wie in jeder Kathedrale war sie dem
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