Haus der Lügen - 8
Allerheiligsten nahe genug, dass jeder, der dort saß, alles deutlich sehen und hören konnte. Da sich Prinz Daivyn und Prinzessin Irys im Exil in Delferahk befanden, wirkte die Loge auffallend leer. Deswegen fiel der einzelne Imperiale Gardist nur um so mehr auf, der vor dem geschlossenen Gittertor stand.
Er trug die schwarze Rüstung und die Farben Schwarz, Gold, Blau und Silber des Charisianischen Kaiserreichs. Doch das, was anscheinend jedem als Erstes auffiel, waren seine sonderbaren Saphiraugen. Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Corisandianer war Gahrvai Seijin Merlin Athrawes schon einmal begegnet. Ja, jedes Mitglied des Regentschaftsrats hatte ihn schon kennen gelernt, wenn auch nur flüchtig. Die Grafen Anvil Rock und Tartarian hatten sogar schon eine längere Zeit mit ihm verbracht. Schließlich war er der einzige Waffenträger, dem Cayleb gestattet hatte, während der Kapitulationsverhandlungen anwesend zu sein. Sir Alyk Ahrthyr kannte den Seijin in mancherlei Hinsicht sogar noch besser – oder zumindest kannte er dessen Arbeitsweise besser. Denn genau das hatte ihm bei der Schlacht von Grüntal das Leben gerettet.
Jeder im ganzen Fürstentum kannte den Ruf, in dem Merlin Athrawes stand. Jeder wusste, dass er der gefährlichste, todbringendste Krieger der ganzen Welt war ... und dass er persönlich alle drei Attentäter getötet hatte, die Staynair in der Kathedrale von Tellesberg angegriffen hatten. Und so trug das Wissen, dass jener Merlin Athrawes jetzt anwesend war und aufmerksam das gesamte Innere der Kathedrale im Blick behielt, gewiss seinen Teil dazu bei, dass der Erzbischof so gelassen den Mittelgang hinunterschreiten konnte.
Während des Eröffnungschorals hatten Staynair und Gairlyng das Allerheiligste erreicht. Gahrvai nahm wieder auf seiner Bank Platz, kaum dass die beiden Erzbischöfe sich im Chorgestühl niedergelassen hatten und auch die Gemeinde sich setzen durfte.
Die Messe verlief reibungslos. In der Liturgie, die schon seit so langer Zeit festgeschrieben war und von der ganzen Gemeinde geliebt wurde, hatte man praktisch keinerlei Veränderungen vorgenommen. Eigentlich war die einzige grundlegende Veränderung die Auslassung der Treueformel dem Großvikar als Oberhaupt von Gottes Kirche auf Safehold gegenüber. Das, so mutmaßte Gahrvai, erschien der ›Vierer-Gruppe‹ sicher eine sehr grundlegende Veränderung.
Doch schließlich war der Punkt gekommen, den jeder Einzelne in der Kathedrale herbeigesehnt hatte. Völlige Stille herrschte in dem gewaltigen Bau. Es war so leise, dass man deutlich Staynairs Schritte hörte, als er zur Kanzel schritt.
Einen Moment lang blieb der Erzbischof dort stehen und blickte auf die versammelte Gemeinde hinab. Dann fuhr er mit der Fingerspitze das Zeichen des Zepters nach, das auf das gewaltige Missale geprägt war. Schließlich schlug er die Heilige Schrift auf. Wie ein Flüstern hallte das Rascheln der schweren Seiten in der Kathedrale wider, und als Staynair sich schließlich räusperte, klang es schon fast widernatürlich, ja erschreckend, laut.
»Die heutige Lesung«, sagte er, und seine tiefe, volle Stimme erfüllte das ganze Gotteshaus, »stammt aus dem Buch Chihiro , Kapitel neun, Verse elf bis vierzehn.
Dann sprach der Herr zum Erzengel Langhorne: ›Siehe, ich habe meine Heilige Kirche begründet, auf dass sie die Mutter aller Männer und Frauen auf dieser Welt ist, die ich geschaffen habe. Sorge dafür, dass sie alle meine Kinder nährt. Dass sie die Jungen lehrt und die Wege und die Weisheit jener lenkt, die bereits erwachsen sind. Dass die Alten wohl versorgt sind. Und vor allem soll sie alle meine Kinder den Weg lehren, den sie gehen sollen.
Und wenn du all diese Dinge getan hast, wenn du dir sicher bist, dass jene die Priester sind, die meine Herde führen und hüten sollen, dann verleihe ihnen die Autorität. Gib ihnen, was sie brauchen, um meinen Willen zu erfüllen, und erinnere sie und alle Priester, die nach ihnen kommen werden, immer daran, dass es ihr Ziel, ihre Aufgabe und ihre Pflicht ist, meinen Willen zu tun, um immer und stets und an allen Orten meinem Volke zu dienen.‹
Und der Erzengel Langhorne lauschte all den Anweisungen des Höchsten und Heiligsten, und der Erzengel verneigte sich bis zum Boden und sagte dem Herren, unserem Gott: ›Wahrlich, es soll sein, wie du mich geheißen.‹«
Der Erzbischof legte die Handfläche auf das offene Missale und blickte erneut die versammelte Gemeinde an.
»Dies
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