Haus der Lügen - 8
heiligen oder einander so zu lieben, wie wir uns selbst lieben.«
Staynair schüttelte den Kopf.
»Und da ist die Tatsache, dass ich jetzt hier vor euch stehe, in dieser Kathedrale, der Beweis dafür, dass die Kirche von Charis die Dekrete der Kirche nicht befolgt.« Jetzt klang seine Stimme hart. Nicht zornig, nicht verurteilend, nicht einmal herausfordernd, aber doch so unnachgiebig wie eine Schwertklinge.
»Der Großvikar hat mich exkommuniziert«, fuhr er fort, und die Spannung in der Kathedrale steigerte sich noch, als der Erzbischof dies so offen aussprach. »Ich wurde meines priesterlichen Amtes enthoben. Er hat mich dieses Amtes enthoben. Ich wurde, in Abwesenheit, verurteilt: für Ketzerei, für Abtrünnigkeit, für Hochverrat. Und das Urteil lautete, für meine zahlreichen Vergehen und Sünden seien an mir die Strafen Schuelers zu vollziehen. Die Kirche von Charis hat sich gegen die Dekrete des Vikariats erhoben, gegen die Dekrete des Großvikars – und gegen den Großvikar selbst. Wir haben Weisungen des Tempels zurückgewiesen. Wir haben Priestern das geistliche Amt entzogen und sie gehängt – für Morde, die sie im Namen des Großinquisitors begangen haben. Wir haben unsere eigenen Bischöfe und Erzbischöfe eingesetzt; wir haben unsere eigenen Priester geweiht; und in jeder Ecke des Kaiserreichs Charis haben wir Mutter Kirche getrotzt und sie herausgefordert, gegen uns zu unternehmen, was immer sie könne. Wir haben uns ihren Handlangern und Strohmännern in der Schlacht gestellt; und wir haben andere Länder erobert – auch das Fürstentum Corisande. Wir haben diese Länder mit Waffengewalt erobert, gegen den ausdrücklichen Willen von Mutter Kirche. Und nun sage ich euch, es ist nur eine Frage der Zeit – und es wird nicht viel Zeit vergehen! –, bis Mutter Kirche zum Heiligen Krieg gegen die Kirche von Charis aufrufen wird: gegen das Kaiserreich Charis und gegen jeden einzelnen Menschen, gegen jedes Kind Gottes, das die Feinde von Mutter Kirche unterstützt. Wir sind nicht zu euch gekommen, um euch den Frieden zu bringen, meine Kinder, und ich will auch nicht so tun, als wäre es anders. Nein, wir sind gekommen mit dem Schwert in der Hand. Und das Schwert in unserer Hand ist ebenso scharf und seine Klinge gehärtet wie der Widerstand in unseren Herzen.«
Nun war die Stille in der Kathedrale so vollkommen und so angespannt, dass Gahrvai ernstlich erstaunt war, dass sie nicht zerbarst wie Glas, nur weil er einatmete. Staynair ließ die Lautlosigkeit wachsen, bis seinen Zuhörern vor Stille die Ohren klangen. Dort stand er im Lichtschein der Glasmalerei-Fenster, eingehüllt von zarten Weihrauchschwaden, wie ein unnachgiebiger Fels inmitten einer tiefen, kalten Grube der Stille.
»Ja«, ergriff er schließlich wieder das Wort, »wir haben Mutter Kirche unseren Gehorsam verweigert, Gottes ausdrücklichem Gebot zum Trotze. Aber wir hatten einen Grund, so zu handeln, meine Kinder. Trotz allem, was ihr vielleicht gehört habt, haben das Königreich Charis und die Kirche jenes Königreichs mitnichten Mutter Kirche den Krieg erklärt.«
Protestierendes Füßescharren war die Antwort. Doch Staynair schüttelte nur kurz den Kopf, und sofort herrschte wieder völlige Stille.
»Mutter Kirche hat uns den Krieg erklärt, meine Kinder. Sie hat die Zerstörung von Charis angeordnet, und sie hat euren Prinzen und eure Navy und eure Ehemänner, eure Väter und Söhne und Brüder dazu benutzt, Zerstörung über Charis zu bringen. Sie hat den Angriff ohne Vorwarnung geführt, ohne Kriegserklärung. Nie hat sie uns gemaßregelt; nie hat sie uns Vorwürfe gemacht; nie hat sie uns gewarnt, wir würden falsche Lehren verbreiten und ließen es an Gehorsam vermissen. Sie hat einfach nur verfügt, das Königreich Charis sei zu vernichten. Man müsse uns zerschmettern und vernichten und aus der Geschichte von Safehold tilgen. Unser Volk solle in seinen eigenen Heimstätten ermordet werden, und die Heimstätten seien niederzubrennen. Und darum haben wir uns verteidigt, haben unsere Heimstätten vor der Zerstörung beschützt und unsere Familien ... und dafür – dafür , meine Kinder! – wurden wir zu Ketzern erklärt und exkommuniziert!«
Wieder schüttelte er den Kopf, und seine Miene war sehr grimmig.
»Im dreizehnten Vers der heutigen Lesung findet ihr alles, was wir zu unserer Verteidigung vorzubringen haben. Alles, was zu unserer Verteidigung ausreicht. Der Herr hat Langhorne aufgetragen: ›Wenn du dir
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