Haus der Lügen - 8
Als hätten sie echtes Mitleid mit ihm, einfach nur, weil dieser Dorfpriester im Dienste jener Feinde Gottes hin und wieder erstaunliche Beredsamkeit an den Tag gelegt hatte.
Doch es wäre töricht gewesen, das Ausmaß dieses gewaltigen Zorns zu unterschätzen ... oder die Ernsthaftigkeit der damit einhergehenden Konsequenzen. Genau das hatte Staynair ganz offenkundig nicht getan. In seiner ersten Predigt, widerrechtlich von der Kanzel in der Kathedrale von Manchyr gehalten, hatte er sich genau diesen Zorn zunutze gemacht und dann versucht, seinen Verrat an Mutter Kirche und die Gründung der so genannten ›Kirche von Charis‹ zu rechtfertigen. Natürlich gab es dafür keinerlei Rechtfertigung. Wer wütend war, vermochte jedoch nicht mehr vernünftig zu denken. Daher war Staynairs Predigt auf äußerst fruchtbaren Boden gefallen. Selbst viele derjenigen, denen das Kaiserreich Charis gewaltig gegen den Strich ging, ließen allmählich in ihrem Widerstand gegen die › Kirche von Charis‹ nach. Wer in der Hauptstadt die charisianische Besatzung nicht dulden mochte, richtete seinen Zorn gegen die weltliche Obrigkeit, nicht gegen Staynair ... oder Gairlyng. Jeder Schwachkopf hätte doch begreifen müssen, dass weder der Regentschaftsrat noch Vizekönig-General Chermyn derart zu handeln gewagt hätten, wenn sie nicht eine ausdrückliche Weisung seitens der Kirche erhalten hätten, der sie die Treue geschworen hatten. Doch bei allzu vielen einfachen Leuten wurde allmählich in gefährlicher Weise zwischen der charisianischen Kirche und der charisianischen Krone unterschieden. Staynairs Predigten hatten ihm weitere Unterstützung eingebracht: In ihnen betonte er die Gewissensfreiheit und immer wieder die Tatsache, dass die Ketzer-Kirche jegliche peinliche Befragung und die Strafen Schuelers zurückweise. Gleiches galt für das ausdrückliche Versprechen, Tempelgetreue, die sich an das geltende Recht hielten, dürften weiterhin die Liturgie verwenden, die ihnen genehm sei und sogar ihre eigenen Priester behalten! Einige Berichte besagten, selbst unter den Tempelgetreuen gebe es mittlerweile zahlreiche, die Staynair zu respektieren gelernt hatten – wenngleich widerwillig. Sie taten es, weil er integer sei.
Diese Aushöhlung des Glaubens war es, die Shylair am meisten beunruhigte. Doch er wusste, dass seine weltlichen Verbündeten – wie beispielsweise Craggy Hill – ebenso besorgt waren, weil die ›Kirche von Charis‹ zunehmend akzeptiert wurde. Langfristig würde es nämlich dazu führen, dass auch der Widerstand gegen das Kaiserreich nachließe. Die Treue Prinz Daivyn gegenüber schien immer noch ungebrochen, und die meisten Corisandianer schienen auch deutlich zu unterscheiden zwischen dem Prinzen im Exil und dem Regentschaftsrat, der in seinem Namen handelte. Das Volk von Corisande war noch lange, lange nicht bereit, Cayleb zu vergeben, dass er Hektors Ermordung arrangiert hatte. Doch es gab einen gewaltigen Unterschied dazwischen, dem derzeitigen Regime die Rechtmäßigkeit abzusprechen, und sich ihm aktiv zu widersetzen .
Und um alles noch schlimmer zu machen, schien die Bevölkerung der Hauptstadt auch noch zu dem Schluss gekommen zu sein, die Widerstandsbewegung – ihre Befreier! – wären der wahre Feind. Vom Verstand her vermochte Shylair sogar die plumpen physischen Faktoren nachvollziehen, die zu diesem Ergebnis geführt haben mochten. Doch er war einfach von Natur aus nicht in der Lage, Mitgefühl für jemanden aufzubringen, der in der Lage war, derart krude Gedanken überhaupt zu hegen. Dahinter steckte eine profunde Zurückweisung von Gottes Willen, nur aufgrund schlichter selbstsüchtiger, materieller Überlegungen, die Shylair einfach nicht zu verstehen in der Lage war.
Wie dem auch sei: Es war nun einmal so, wie es war – Tatsachen ließen sich nicht leugnen; aber deprimierten eben.
Unter charisianischem ›Schutz‹ blühte der Handel im Südwesten von Corisande allmählich wieder auf. Waren strömten in die Häfen; die Geschäfte waren wieder geöffnet; Prinz Hektors Einfuhrzölle und Importabgaben (von denen einige beträchtlich erhöht worden waren, als er sich darauf vorbereitete, die charisianische Invasion abzuwehren) hatte man gekappt; und charisianische Investoren suchten ganz offenkundig nach gewinnversprechenden Anlagen. Die Wirtschaft der Hauptstadt hatte noch nicht dasselbe Volumen wie vor der Invasion. Doch sie näherte sich dieser Grenze allmählich an. Und dies geschah in
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