Haus der roten Dämonen
ihren Beinen zu kontrollieren, was ihr jedoch nicht gelang. Sie musste auf den Knien bleiben, sich mit den Händen abstützen. Sie roch das Bittere ihres eigenen Erbrochenen, das ihre Kleider beschmutzt hatte.
Auch der zweite Versuch, auf die Beine zu kommen, schlug fehl. Die Entführung, die wilde Jagd hierher, die Tatsache, dass sie wie ein Stück Wäsche hin und her geschleudert worden war, all das hatte sie zu sehr erschöpft und sie konnte nur noch krabbeln wie ein Kleinkind. Ihre Beine gehorchten ihr im Augenblick nicht mehr.
Also lief sie auf allen vieren in das Treppenhaus hinein.
»Hallo?«, rief sie mit einer Stimme, die sie selber kaum mehr erkannte, so krächzend und rau klang sie.
Natürlich ahnte Julia, wer sie hatte entführen lassen. Doch was wollte Contrario von ihr oder mit ihr? Als Geisel
war sie denkbar ungeeignet, denn niemand würde für sie auch nur den kleinen Finger rühren. Mit Ausnahme von Jan vielleicht …
Beim dritten Versuch und mithilfe des Geländers kam sie auf die Beine. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie Monate auf einem Schiff zugebracht. Die Welt um sie herum schwankte und drehte sich hin und her. Ihr war, als kippte das Haus auf eine Seite, denn sie rutschte weg von der Treppe und hin zu den Türen, die sie unterhalb des Aufgangs gesehen hatte. Wie von selbst schienen sich ihre Beine in diese Richtung zu bewegen. Unsicher stolperte sie vorwärts, wurde wie magisch von einer der Türen angezogen. Diese öffnete sich wie von Geisterhand, bevor sie den Türgriff berühren konnte. Mit einem Schwung, als wäre sie gestoßen worden, taumelte sie hinein. Die Tür schlug hinter ihr zu, und Julia fiel auf das Bett, das direkt gegenüber dem Eingang stand, als hätte es dort auf sie gewartet.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf einer duftenden Heumatratze, fühlte sich warm, geborgen und müde. Julia schloss die Augen und wollte für einen Augenblick nichts wissen, nichts hören, nichts sehen. Nur kurz ausruhen, dachte sie noch, doch dann verwischte auch dieser Gedanke und sie schlief ein.
»Entführt!«, keuchte Jan. »Der Leu … bevor wir durch das Tor konnten … Contrario-Buntfinger … wir müssen schnell Hilfe …« Jan stotterte und brachte keinen vernünftigen Satz hervor. »Er hat … schon einmal gedroht … Julia … zu töten.«
Rabbi Löw blickte ihn ernst an, dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter, wie eben dem Golem.
»Nur die Ruhe, mein Junge. Wir werden schnell handeln, aber nicht überhastet. Hast dient nur unseren Gegnern.
Schnelligkeit hat etwas mit Ruhe und Überlegung zu tun. Komm mit. Erzähl mir, was geschehen ist – und dann denken wir nach. Erst danach handeln wir.«
Er drängte Jan in die Richtung, aus der er gekommen war. In der Nähe der Altneusynagoge betraten sie das Wohnhaus des Rabbi. Jan durfte sich an den Tisch setzen, der Geistliche stellte ihm etwas zu trinken hin – und sobald die Stimmbänder durch die Flüssigkeit geölt waren, begann Jan zu erzählen.
Er ließ nichts aus, nicht einmal den Kuss für Julia im Turm, was dem Rabbi ein feines Lächeln ins Gesicht zeichnete.
»Ach ja«, seufzte er. »Jung und verliebt.«
Worauf Jan sofort schroff nachhakte. »Ich bin nicht verliebt – und Julia ist es auch nicht.«
»Oh, natürlich«, versicherte der Rabbi sofort, »wie dumm von mir, so etwas zu denken.«
Jan erzählte rasch weiter. Erst mit dem Kampf des Golems gegen die beiden Dämonen endete er.
Den Rabbi hatte es wie üblich nicht auf dem Stuhl gehalten. Er lief durch die Stube, pendelte wie ein Senkblei hin und her und rieb dabei sein Kinn mit den Fingern der rechten Hand.
»Du hättest vermutlich auf Julia hören sollen!«, sagte er plötzlich. »Auch ich habe mich gefragt, wo er wohl die Bilder seiner Kreaturen gelagert hat. Es muss ein Ort sein, der nicht zufällig betreten wird, den er selbst aber jederzeit besuchen kann und der außerdem ein Symbol ist für das, was er plant. Er will die Zeit für sich anhalten – nun, das ist ihm gelungen.«
Jan sprang auf. »Aber wie ist das möglich? Contrario hatte niemals Zugang zum Rathaus und damit zur astronomischen Uhr. Das müsste doch aufgefallen sein.«
Wieder lief Rabbi Löw hin und her. »Messer Arcimboldo hat den Auftrag erhalten, für das Rathaus eine Seidendekoration herzustellen. Nachdem er Kartonagen für Baron Ferdinand Hoffmann, den neuen Präsidenten der kaiserlichen Hofkammer, vorgelegt hatte, war der Rat der Stadt mit einer ähnlichen Bitte an ihn
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