Haus der roten Dämonen
Bett und in der Truhe nach, die neben dem Bett stand. Das Einzige, was sie dort fand, war frische Kleidung. Sie holte ein Hemd und ein einfaches Überkleid heraus und nahm beides in Augenschein. Es würde ihr passen. Zwar war ihr ein wenig unwohl dabei, sich ein fremdes Gewand zu nehmen, doch sie würde ja ihre eigene, wenn auch besudelte Kleidung zurücklassen.
In der Ecke standen ein Krug mit Wasser und eine Schale zum Waschen, darauf ein frischer Lappen. Sie füllte die
Schale. Nach einem erneuten Rundumblick, der ihr bestätigte, dass sie tatsächlich allein im Zimmer war, entledigte sie sich rasch ihrer Kleidung, wusch sich mit dem bereitstehenden Wasser, spülte ihren Mund aus und schlüpfte in die frischen Sachen. Sie lagen angenehm auf der Haut und rochen nach Lavendel, wenn sie ihr auch ein wenig zu groß waren. Jetzt fühlte sie sich gerüstet.
Die ganze Zeit über plagte sie jedoch das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber auch vor dem Fenster stand niemand und die weißen Wände ließen die Möglichkeit von verborgenen Gucklöchern nicht zu. Sie schalt sich eine dumme Person, die vor Angst Wahnvorstellungen entwickelte, und wollte aus dem Zimmer gehen. Da schoss eine Welle der Panik in ihr auf und brachte ihr Herz zum Rasen. Ihre Atmung beschleunigte sich. Plötzlich drehte sich alles um sie herum. Julia musste sich aufs Bett setzen und bewusst langsam atmen. Der Tür fehlte der Griff. Sie konnte sie nicht öffnen.
»Dann eben zum Fenster hinaus!«, murmelte sie halblaut vor sich hin. Doch als sie die ölgetränkte Schweinsblase von der Öffnung nahm, entdeckte sie ein Gitter. Auch dieser Weg war ihr versperrt. Sie saß in der Falle. Zuerst war sie verblüfft, dann jedoch wallte Furcht in ihr auf und griff nach ihrem Hals. Sie musste schlucken, ihre Lippen begannen zu zittern und ihre Hand ebenfalls. Der Blick ihrer Augen trübte sich ein, und ein Tränenfluss, den sie nicht beherrschen konnte, befeuchtete ihre Wangen. Julia weinte hemmungslos. Sie machte sich nicht die Mühe, sich aufs Bett zu legen und den Kopf im Kissen zu vergraben. Sie ließ den Tränen einfach ihren Lauf. Schließlich versiegten auch sie und ihr Verstand kehrte zurück.
»Wer immer du bist«, knurrte sie leise. »Zeig dich!«, schrie sie die Wände an.
Doch nichts rührte sich. Nur für sich dachte sie: Du wirst mich kennenlernen.
27
Die Bibliothek der Bilder
A ls Jan aus dem Haus trat, spürte er sofort die Panik, die ganz Prag erfasst hatte. Es hatte mittlerweile zu regnen aufgehört und der Himmel war klar und fast durchsichtig. Doch die Luft war erfüllt von einem einschüchternden Kreischen und Brüllen, das von Schreckensrufen und Todesschreien der Menschen begleitet wurde. Contrario-Buntfinger hatte seine Herrschaft angetreten.
Durch die Luft sausten Wesen, die wie Drachen oder riesige Fledermäuse aussahen. Vorhin waren sie Jan nicht aufgefallen. Jetzt sah er, wie sie immer wieder auf die Stadt hinunterstießen und zappelnde und vor Todesangst kreischende Menschen in ihren Fängen hielten, wenn sie sich erhoben. Sie flogen auf die Moldau hinaus und ließen die sich wehrenden Bewohner in den eisigen Fluss oder auf den schmalen Uferstreifen fallen. Manchmal trugen sie die Menschen auch weiter, bis an einen Ort, den er nicht ausmachen konnte. Er wollte nicht darüber nachdenken, was mit diesen armen Geschöpfen geschah, wusste jedoch, wie sehr dieser Contrario-Buntfinger Blut brauchte, um seine Bilder zu malen. Viel Blut, weil er viele Kreaturen in diese Welt setzte.
Bis zum Rathaus und zur astronomischen Uhr waren es sicher nur etwa tausend Fuß. Eine Strecke, die Jan in höchstens fünf Minuten gelaufen wäre – wären da nicht die Kreaturen gewesen. Sie machten den Weg zum tödlichen
Wagnis. Jan war sofort klar, warum ihn der Rabbi nicht hatte begleiten wollen. Jan riskierte für die Suche nach den Bildern sein Leben. Jeden Moment konnte eines der Wesen auf ihn niederstoßen und ihn in die Lüfte emportragen.
Die Erkenntnis ließ ihn schlucken. Aber er musste es versuchen. Nur so konnte er Julia retten. Wenn er die Bilder fand, würde er die Leinwände zerstören, würde die Wesen damit auslöschen und für sich den Weg zu Julia freimachen. Er tat es für Julia und damit natürlich für sich selbst. Und er musste sich beeilen, denn er traute diesem Adlatus alles zu, wirklich alles.
Die ersten Schritte bis zum Tor der Judenstadt fühlte er sich noch sicher. Er hatte Schnelligkeit und Kraft des Golem kennengelernt.
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