Haus der roten Dämonen
los?«, fuhr Jan sie an. Als er stehen blieb und Julias Gesicht betrachtete, erschrak er. Sie war völlig erschöpft. Ihr Atem flog, die Lippen waren blau angelaufen. »Noch fünf Minuten, Julia, dann sind wir in der Judenstadt bei Rabbi Löw und in Sicherheit.«
»Ich kann nicht mehr!«, formten Julias Lippen, ohne dass sie einen einzigen Ton herausbekam. »Lauf zu!«
»Bist du verrückt? Ich werde dich nicht loslassen!« Für einen kurzen Augenblick jagte ein Schauer durch seinen Körper. Niemals würde er sie zurücklassen, lieber blieb er neben ihr stehen und verteidigte sie, bis er aufgeben musste.
Kaum hatte er das gesagt, füllte ein donnerndes Brüllen seine Ohren. Als hätte ihn ein riesiger Besen erfasst, wurde Jan von den Beinen gerissen, beiseitegewischt und er krachte gegen das Mauerwerk. Vor seinen Augen tanzten blaue Feuersterne. Für einen Augenblick rang er nach Luft und glaubte ersticken zu müssen. Während er wie gelähmt auf die Kreatur starrte, die dort mitten in der Gasse stand,
packte diese Julia mit ihren Fängen. Wie tot hing das Mädchen in der Pranke der Bestie. Der Leu bleckte die Fänge seiner drei Köpfe gleichzeitig gegen ihn und ließ ein rasselndes Knurren hören. Dann schien einer seiner Köpfe ein anderes Ziel auszumachen und drehte sich weg.
Jan rappelte sich sofort hoch. Der Rücken schmerzte und die Lungen stachen.
»Julia?«, schrie Jan. »Lebst du noch? Julia!«
Als hätte sein Ruf sie wiederbelebt, begann das Mädchen, wie wild zu zappeln, doch die heftigen Bewegungen schienen den Dreiköpfigen nicht zu interessieren. Er beugte sich mit einem seiner Köpfe zu Jan hinunter, der mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Der eine Kopf des Leu schnüffelte an ihm. In den irisierenden Augen des roten Dämons lagen eine stumpfe Gleichgültigkeit und gleichzeitig eine hinterhältige Schläue. Eine lange Zeit des Schweigens folgte, in der Jan sich nicht getraute, sich von der Wand abzustoßen. Erst als der Leu den einen Kopf hob, die Mähne schüttelte und mit einem Satz außer Reichweite war, kam wieder Leben in Jan.
»Julia!«, schrie er und wollte hinter dem Leu her, doch die scharlachrote Sphinx und der Bär versperrten ihm den Weg. Mit einem weiteren Satz hatte sich der Leu auf die Dächer der Häuser hinaufkatapultiert und war Jans Blick entschwunden.
»Julia!«, schrie er noch einmal. Wut packte ihn. Finsterste Wut. Er schüttelte die Faust gegen den Himmel, dorthin, wo der Leu verschwunden war, und schrie einfach: »Ich kriege dich, Contrario-Buntfinger, dich und deine ganze Armee von Dämonen!«
Dann drehte er sich um und rannte weiter, sofort verfolgt von den beiden Chimären, die sich mit Riesenschritten näherten. Zu zweit würden sie ihn sehr bald stellen. Vielleicht
wollten sie ihn ebenfalls entführen. Jans Wut schlug jäh in Enttäuschung und Trauer um, als er das Tor zur Judenstadt sehen konnte. Es stand Gott sei Dank offen. Nur noch einige wenige Schritte hätten Julia und er zurücklegen müssen, dann wären sie in Sicherheit gewesen.
Jan huschte durch die Toröffnung und wollte weiterrennen, als ihn ein Arm umfing, zurückriss, beiseitezerrte und gegen die Wand eines der Häuser stieß. Der Kerl hatte direkt hinter dem Tor gestanden und ihn abgefangen. Jan wollte schon protestieren, als die beiden Dämonen die Judenstadt betraten. Sie bremsten ihren Schwung ab, schnüffelten in der Luft. Hier hinter der Mauer war alles enger, düsterer. Der Mann trat vor, versperrte den Rückweg durch das Tor. Mit verschränkten Armen stand er im Rücken der Kreaturen. Seine Muskeln spielten unter grober Kleidung. Stämmige Arme, stämmige Beine und ein Brustkorb, in den sich Jan hätte verkriechen können, zeichneten sich unter einem dürftigen und löchrigen Leinenhemd ab. Seine Haut glänzte wie feuchter Lehm. Jan überragte er um mindestens drei Köpfe. Ihm schien der Hals zu fehlen, so stark wölbten sich die Nackenmuskeln, und auf der Stirn glaubte Jan sogar ein drittes Auge zu erkennen. Aber das war unmöglich.
Die beiden Wesen schienen die Anwesenheit des riesigen Mannes zuerst nicht zu bemerken, doch bald schon wies die scharlachrote Sphinx auf den Wächter hin. Beide Tiere drehten sich nun ganz herum – und was jetzt geschah, würde Jan niemals mehr aus seinem Gedächtnis löschen können.
Die Augen des Mannes, der ihn beiseitegerissen hatte, begannen regelrecht zu glühen. Die beiden Chimären duckten sich. Der Bär stellte die Nackenhaare auf und auch die
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