Haus der roten Dämonen
er nichts erkennen. Doch er glaubte nicht daran, dass sie das Ungeheuer abgeschüttelt hatten.
»Hast du gehört? Irgendetwas geht um!« Julia boxte ihn in den Rücken, schob sich an ihm vorbei und blickte vorsichtig umher. Dann zog sie Jan zurück in die Lücke zwischen beiden Häusern.
»Schnapsidee, hierher zurückzugehen! Der Leu steht unter der Traufe direkt gegenüber von uns.«
Sie hatte noch nicht ausgeredet, als Jan ihn hörte. Jemand ihnen gegenüber sog die Luft ein, schnüffelte.
»Der Leu wittert uns!« Jan war sofort klatschnass geschwitzt bei dem Gedanken, er könnte für das Wesen gar nicht so unsichtbar sein, wie er dachte.
»Wir gehen langsam zurück.« Jan drehte sich um und wollte Julia vor sich herschieben, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Der Leu sprang mit weit
vorgestreckter Tatze. Die fuhr zwischen Jan und Julia und streckte Jan nieder. Krallen mit messerscharfen Spitzen klackten deutlich hörbar gegen das Pflaster aus Flusskieseln. Die Pranke grub sich in Jans Schulter. Die Klaue, die er selbst erfunden hatte, hatte ihn erwischt. Ein blaues Flirren entstand, dann ein Surren, das den Zwischenraum hell ausleuchtete.
»Lauf!«, schrie Jan dem Mädchen zu, das sich gerade umwenden wollte, um ihn aus den Fängen des Leu zu befreien.
Merkwürdigerweise spürte er kaum Schmerzen. So musste es sein, wenn im Wald ein Reh oder ein Hirsch von einem Wolfsrudel angefallen wurde. Die Tiere, das wusste Jan, hielten still, ließen sich ohne Widerstreben töten. Dieses Gefühl des Endgültigen, des Nicht-mehr-zu-Ändernden hielt auch ihn gefangen. Es war wie eine Starre. Er beobachtete seinen eigenen Tod mit einer Gelassenheit, die ihn selbst erstaunte. Die lange Kralle an der Pfote, von ihm selbst entworfen, hatte ihn aufgespießt, durchbohrt – und wenn der Leu seine Pranke zurückzog, würde er an dieser hängen wie ein Fisch am Haken.
Doch etwas in ihm sträubte sich. Die Wunde wurde umspielt von einem bläulichen Schein, von kleinen blauen Blitzen, die stärker wurden, je wütender er mit seinem Schicksal und seinem nahen Tod haderte. Er musste doch Julia beistehen, durfte sie nicht allein lassen. Außerdem war er jung. Er wollte nicht sterben. Noch nicht. Ein Feuerwerk von Funken stob aus der Wunde und gab ihm Energie, ungeahnte Energie. Mit aller Kraft, zu der ihn diese bläulichen Blitze befähigten, stemmte er sich gegen die Pranke – und diese wurde sehr zu seinem Erstaunen hochgeschleudert, sodass er unter der Pfote hervorkriechen konnte. Der Druck auf seine Lungen ließ nach. Das blaue Prasseln verschwand. Ein dreifaches Heulen antwortete seinen Flüchen. Der Dreiköpfige jagte davon.
Jan stürzte vorwärts und wurde von Julia aufgefangen, die dort stand und weinte. Um ihn weinte.
»Bist du … verletzt?«, wollte sie wissen, doch ihre Stimme stockte wieder und wieder. Ein Schluchzen stieg in ihr hoch und machte sich in einem ruckartigen Atmen bemerkbar.
Jan antwortete nicht. Er stolperte weiter und das Mädchen begriff. Sie mussten weg von hier, auch wenn im Augenblick von der dreiköpfigen Kreatur nichts mehr zu sehen war.
»Ich … weiß vielleicht … wohin wir können. Nie…, niemand … wird uns dort vermuten«, flüsterte Julia schluchzend und zog Jan mit sich fort. Diesmal gingen sie langsam den Weg entlang, stiegen die Stufen hinab und schlichen durch die Gärten, bis sie das Moldauufer erreichten. Julia beruhigte sich langsam. Jan folgte ihr, ohne auch nur nachzufragen, wohin es gehen sollte und warum sie geweint hatte. Ihm war schwindlig und er war erschöpft. Außerdem begannen seine Verletzungen zu pochen, und seine Knie fühlten sich an, als wären sie aus Brotteig. Ab und zu zuckte ein blauer Schein über seinen Körper, als hätte ihn die Berührung mit dem dreiköpfigen Leu aufgeladen.
Erst mit einigem Abstand hielt Julia an und lehnte Jan gegen die Mauer. Hastig untersuchte sie die Schulter.
»Tut dir etwas weh?«, fragte Julia besorgt. Ihre Hand an seiner Schulter tat gut. Er genoss die Berührung, das zarte Gleiten und Suchen der Fingerspitzen auf der Haut.
»Ich weiß es nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde mich seine Klaue durchbohren.«
Julia erschrak und berührte die Schulter noch vorsichtiger. Doch sie sagte nichts zur Schwere seiner Verletzung, wohl um ihn vor der Wahrheit zu schützen.
»Wir müssen uns verstecken«, keuchte Jan. »Aber wir können nicht in dein Elternhaus. Dort hat dich das Vieh
aufgespürt. Zu Messer
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