Haus der roten Dämonen
ein gebranntes Kind – er würde sich nicht zweimal in dieselbe Falle locken
lassen. Langsam wich er zurück auf die andere Straßenseite und beobachtete von dort die ins Licht des Mondes getauchte Häuserfront.
Er hätte sich gern in Ruhe mit diesem »Pst! Jan!« beschäftigt, das nun zum dritten Mal über die Straße schallte. Lauter und deutlicher als die beiden Male zuvor. Doch die Kreatur begann zu toben und Jan konnte nur noch an Julia denken. Es war wie ein Zwang. Er sah, wie das Geschöpf mit einer seiner Pranken ausholte und das Tor zum Gasthaus zerschmetterte, wie es erneut die Tatze hob und gegen das Haus …
»Verdammt, Jan, bist du denn taub und blind?«, rief die Stimme.
Die Pfote des Leu erstarrte in der Bewegung. Die drei Köpfe ruckten einer nach dem anderen in Jans Richtung.
Jetzt erst suchte er die gegenüberliegende Seite genau ab – und tatsächlich entdeckte er in einem zurückgesetzten Hauseingang, der vom Gasthof her nicht mehr eingesehen werden konnte, jedoch direkt im Licht des Mondes lag und gut ausgeleuchtet wurde, ein Mädchen. Es starrte ihn an – und Jan starrte zurück. »Julia!«, rief er und wusste sogleich, dass dies ein Fehler gewesen war. Wie ein Blitz jagte er über die Straße, griff sich das Mädchen und raste mit ihr die Häuserfront entlang.
Seine Aktion wurde von einem gewaltigen Dreifachgeheul begleitet. Der Leu hatte sie gesehen und griff an. Jan hörte ihn abspringen. Ihre Flucht hätte unweigerlich in den Fängen des Leu geendet, wäre Jan nicht zuvor in einen schmalen Pfad abgebogen, der in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Er kannte ihn jedoch von seinem letzten Abenteuer her. Der Weg führte in die hinteren Gärten und von dort aus zur Rückseite des Arcimboldo-Hauses.
Der Fluchtweg hatte allerdings einen Nachteil …
»Achtung, da kommen irgendwo Stufen!«, schrie Jan und trat auch schon ins Leere. Er wollte sich erinnern, wie tief die Treppe hinabreichte, doch er stürzte schon und zog Julia hinter sich her. Beide fielen sie ins Bodenlose. Julia schrie, und Jan versuchte verzweifelt, sich irgendwo festzuhalten. Vergeblich. Er biss die Zähne zusammen. Irgendwann mussten sie aufschlagen – und er wollte sich nicht die Zunge abbeißen.
Dann spürte er Boden unter den Füßen, früher als vermutet. Mit der Schulter schrammte er gegen Fachwerk. Er bekam mit der linken Hand ein Seil zu fassen. Julia schoss auf ihn zu, prallte gegen seine Brust, wurde wieder weggeschleudert. Er hielt sie mit rechts fest. Riss sie zurück. Das Seil rutschte durch seine Handfläche, brannte kurz. Sie standen.
»Hast du dir wehgetan?«, flüsterte er sofort.
»Nein«, kam prompt die Antwort. Doch Julia stöhnte auf. »Ich … mein Fuß … nein, es geht schon.«
»Leise!«, zischte Jan. Er langte in die Dunkelheit und suchte nach Julias Arm. Doch er bekam ihr Gesicht zu fassen, zuckte im ersten Moment zurück und streichelte dann wie selbstverständlich über ihre Wange. Julias Haut fühlte sich weich und warm an und hinterließ ein Prickeln auf den Fingern. Er konnte sogar die feinen Härchen spüren. Am liebsten hätte er gar nicht mehr aufgehört. Doch ihr Verfolger ließ ihnen keine Zeit zum Durchatmen. War die Kreatur eben noch deutlich zu sehen gewesen, behinderte jetzt die enge Gasse den Blick. Sie war auch nicht mehr zu hören.
Julias Kopf näherte sich dem seinen.
»Ist das Wesen weg?«, hauchte sie ihm ins Ohr.
Jan wunderte sich, wie sie in dieser kellerartigen Finsternis sein Ohr gefunden hatte, und hoffte, dass das laute Rauschen darin nicht bis zu ihr hin zu hören war. Er wartete
eine Weile, bis er sich etwas beruhigt hatte und auch die Welt um sich her wieder wahrnahm. Und die war still. Zu still. Verdächtig still. Der Leu war ein Jäger und als solcher hatte er Geduld. Ein Übermaß an Geduld sogar.
»Nein!«, entschied er. »Wir müssen hier weg. Zurück zur Straße. Das erwartet das Tier nicht.«
Zwar war er nicht begeistert, die Treppe wieder hinaufzulaufen, die sie eben hinabgesprungen waren, doch sah Jan nur in dieser Finte eine Möglichkeit, der Kreatur zu entkommen.
Sie schlichen wieder zurück zur Hauptgasse. Jan zählte die Stufen der Treppe. Es waren nur acht. Vermutlich hatten sie es diesem Umstand zu verdanken, dass sie sich nicht den Hals gebrochen hatten. Seine Schulter schmerzte jedenfalls noch immer.
Der Mond beleuchtete die Straße beinahe taghell. Jan blickte die Gasse hinauf und hinunter. Sie war leer. Auch auf den Dächern konnte
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