Haus der roten Dämonen
blättert das Buch wie wild, ohne dass es jemand berührt?« Jan kam um das Pult herum und betrachtete die Zeichnung.
»Nicht!«, riefen Julia und der Rabbi gleichzeitig. Rabbi Löw klappte mit einer raschen Bewegung das Buch zu. Jans Augen waren bereits glasig geworden und stierten auf die Stelle, an der eben wohl noch der Golem im Buch zu sehen gewesen war. Sein Mund bewegte sich langsam, ohne dass er sprach. Unendlich langsam hob sich ein Vorhang in Jans Augen und sein Blick kehrte wieder zu ihnen zurück.
»Es will den Golem als Gegengewicht zum Leu«, murmelte nun Rabbi Löw.
»Vielleicht soll dieser Golem die Judenstadt schützen, die Josefstadt. Vielleicht kann ihm das Wesen ebenso wenig anhaben wie mir.«
Der Rabbi hob den Kopf. Amüsiert betrachtete er Jan, dessen Decke jetzt auch herabzugleiten begann. »Bevor ihr beide nackend dasteht, die Decken hoch!«, befahl er und
wartete, bis sie sich wieder verhüllt hatten. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Junge.« Jetzt lächelte er wieder, beugte sich über das Buch und schloss die Schnallen. »Dann haben wir ja einen Marschplan. Ihr sucht den Kaiser auf und versucht, ihn zu überreden, den Festzug abzusagen. Gleichzeitig mache ich mich an die Arbeit und hole mir den Golem.«
»Wo holt Ihr den Golem?«, fragte Julia neugierig.
»Vom Dachboden der Altneusynagoge. Er liegt dort, aus Lehm geformt. Man muss ihn nur ein wenig zurechtkneten.«
»Kneten?« Julia war zu neugierig. Wie konnte man einen Menschen kneten?
»Der Golem ist ein Lehmwesen. Er wird aus fetter Erde geformt, bekommt einen Zettel in den Mund gelegt, der ihn beseelt – und dient im Wesentlichen seinem Meister als Diener. Ausgestattet ist er allerdings mit ungeheuren Kräften«, erklärte der Rabbi. »Darin ist der Golem dem Leu ebenbürtig.«
»Und danach?«, fragte Julia. »Was machen wir, wenn Ihr den Golem geknetet habt und wir es wirklich schaffen, zum Kaiser vorgelassen zu werden?«
Der Rabbi wirkte besorgt, als er Julia unterbrach.
»Es sind die falschen Fragen. Sie müssten vielmehr lauten: Was machen wir, wenn ihr den Kaiser nicht umstimmen konntet und ich den Golem nicht rechtzeitig fertig bekomme?«
Lange schwiegen sie. Keiner wusste eine Antwort.
Dann wandte sich der Rabbi rasch um. »Das Necronomicon hat mich auf einen Gedanken gebracht. Ich muss irgendwo hier noch …« Er hatte das Buch wieder ins Regal zurückgestellt, war stöhnend in die Knie gegangen und durchwühlte das unterste Fach. »Ja, hier ist die Kiste«, frohlockte
er, zog eine schmale Kassette aus dem hintersten Winkel hervor und stellte sie auf den Tisch, was mit einem halben Dutzend Seufzern und einem beständigen Stöhnen begleitet wurde. »Langsam werde ich alt«, murmelte er.
»Mit Verlaub«, sagte Jan, »Ihr seid alt.«
Er fing sich einen Rippenstoß von Julia ein und verstummte sofort.
»Na danke, mein Junge!«, murmelte der Rabbi. »Ich hätte es nicht bemerkt. Doch altern heißt, dass man auf viele Jahre Leben zurückblickt. Ich habe bereits Dinge erlebt, von denen du nicht einmal weißt, dass es sie gibt. Das nennt man Lebenserfahrung. Glaub mir, Lebenserfahrung kann durch nichts auf der Welt ersetzt werden.«
»Er hat es nicht so gemeint«, entschuldigte sich Julia.
Als Rabbi Löw die Schatulle öffnete, lag darin eine kleine bläuliche Figur mit auf der Brust überkreuzten Armen, einem merkwürdigen Kopftuch aus Glas und mit Schriftzeichen auf dem Bauch.
»Was ist denn das?«, murmelte Julia. »Das sieht ja ulkig aus.«
»Das ist ein Uschebti. Eine Dienerfigur. Sie ist alt. Uralt. Viel älter als ich selbst«, erklärte der Rabbi mit einem Seitenblick auf Jan. »Sie stammt aus Ägypten.«
Julia hatte noch niemals etwas von Ägypten gehört. »Wo liegt dieses Land?«, fragte sie. »Und was hat es mit diesem Schepti auf sich?«
»Uschebti!«, korrigierte sie der Rabbi sanft. »Ägypten liegt in Afrika. Stellt euch einfach vor, das Land, aus dem diese Dienerfigur stammt, ist so weit weg, dass ihr von hier aus fast zwei Jahre bräuchtet, um es zu erreichen. Die Figur selbst ist über dreitausend Jahre alt.« Er hob die Arme. »Sie ist wirklich so alt, das müsst ihr mir einfach glauben. Warum ich sie euch zeige, liegt an dem Geheimnis, das
mit ihr verknüpft ist. Man kann sie nämlich zum Leben erwecken.«
»Ich habe ja schon viel gehört, aber das noch nicht!«, warf Jan zweifelnd ein und erntete erneut einen Fußtritt von Julia. Die funkelte ihn an und formte mit ihren Lippen
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