Haus der Sünde
spürte, dass es sich um einen bedeutsamen Moment in ihrer langen Freundschaft handelte. Ein großer Sprung kündigte sich an – ganz so, wie das Beatrice bereits vorausgesagt hatte.
Warum habe ich das noch nie zuvor gesehen, dachte sie und sah ihre enge Vertraute an, die sie kannte, seitdem Melody ein blutjunges Mädchen gewesen war. Sie hatten sich schon immer nahe gestanden und waren sich in der letzten Zeit, als beide dringend Unterstützung benötigten, noch näher gekommen. Doch diese Nähe war niemals auf eine Ebene gerückt, die etwas anderes als Freundschaft dargestellt hätte. Es war eine ganz konventionelle, normale Beziehung zwischen Freundinnen gewesen. Manchmal war es Claudia fast vorgekommen, als würden sie in die Rollen von Mutter und Tochter schlüpfen, während sie zu anderen Zeiten trotz ihres Altersunterschieds sehr schwesterlich miteinander umgingen.
Weshalb hatte also nun ihre Beziehung angefangen, eine andere Richtung einzuschlagen? Wenn sie Melody ansah, stiegen ganz andere Gefühle als jemals zuvor in ihr auf. Plötzlich erregte Melody sie, und das auf eine Weise, wie das bereits Beatrice getan hatte – nur noch stärker, was vermutlich durch ihre gemeinsame Vergangenheit ausgelöst wurde.
Ihr war klar, dass Melody eine Antwort von ihr erwartete. »Es gibt keinen Grund, es zu vergessen, Mel«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, beim Sex beobachtet zu werden … zumindest nicht von dir. Ich weiß nicht, was Paul davon halten würde, aber ich vermute, dass auch er überhaupt nichts dagegen hätte.«
Melody lächelte und knabberte an ihrer roséfarbenen Unterlippe. Sie schien diese Antwort erst einmal verdauen zu müssen.
»Ich -«, begann sie.
Los, sag es schon, drängte Claudia sie im Stillen. Melody
befand sich ganz offensichtlich auf der Schwelle zu ihrem eigenen großen Sprung.
Aber sie konnte nicht sprechen. Es schien ihr nicht möglich, die Emotionen mit Worten auszudrücken, die doch so deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben standen. Aber du fühlst es, nicht wahr, dachte Claudia, die wusste, dass sie mit dieser Vermutung hundertprozentig Recht hatte. Sie hätte ihr Leben darauf wetten können.
Für den Moment jedoch schienen sie an einem toten Punkt angelangt zu sein. Schließlich standen sie beide zum ersten Mal einer Situation gegenüber, von der bisher noch nie die Rede gewesen war. Eine von ihnen musste etwas tun. Musste handeln. Eine von ihnen musste die andere an der Hand nehmen und sie über die Schwelle führen.
»Mel«, sagte Claudia sanft, fasste nach der Hand ihrer Freundin und führte sie zu ihren Lippen, um sie zu küssen. »Es ist schon in Ordnung«, flüsterte sie, während sie sanft mit den Lippen über die Schicksalslinien auf der Innenseite der Hand fuhr. »Ich empfinde dasselbe. Du brauchst keine Angst zu haben … Es ist nichts Schlechtes an dem, was gerade geschieht.«
»Nein, vermutlich nicht …« Melodys Stimme klang ein wenig unsicher. Tatsächlich zitterte nun ihr ganzer Körper. Claudia spürte das Beben auf ihrer Zunge, als sie Melodys Hand erneut küsste.
»Oh, Gott sei Dank! Gott sei Dank!«, rief Melody plötzlich, und Claudia spürte, wie ihr die Freundin über die Haare strich. Für einen Moment zerzausten Melodys schlanke Finger Claudias kurze, weiche Locken, und dann legten sie sich um das Kinn der Freundin, sodass diese ihr Gesicht heben und Melody ansehen musste. Sie blickten einander lange und tief in die Augen.
Melodys Gesicht schien beinahe zu leuchten. »Mein Gott«,
murmelte sie. »Du bist so wunderbar, Claudia. Ich wünschte nur, ich wüsste, was ich tun soll.«
»Das würde ich auch gern wissen«, erwiderte Claudia leidenschaftlich. »Aber keine Angst, ich glaube, wir sollten einfach improvisieren.« Ohne länger zu zögern, küsste sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Freundin einfühlsam auf den Mund.
Es war wie der Kuss eines Mannes, doch zugleich auch etwas ganz anderes. Claudia begriff, als sie Melodys weiche Lippen und ihren süßen, leicht nach Cognac duftenden Atem schmeckte, dass es einen großen Unterschied zwischen den Geschlechtern gab, was ihre Münder betraf. Melodys Lippen besaßen eine samtige, nahezu plüschartige Qualität, und was hinter ihnen lag, war auf wunderbare Weise nachgiebig, ohne schwach und unterwürfig zu sein. Sie nahm den Kuss an, und für einige Augenblicke blieb ihr Mund weich und passiv unter Claudias Lippen. Dann schien Melody plötzlich aus einem tiefen
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