Haus des Blutes
Empfindsamkeit für die Welt, die sie umgibt, für die kleinen Löcher der subtil ineinander verwobenen Ebenen der physischen und der spirituellen Sphären. Du gehörst zu diesen Menschen. Ich konnte das bereits spüren, als ich dich zum ersten Mal sah.«
Ein Anflug von Ängstlichkeit huschte kaum merklich über seine attraktiven Gesichtszüge. »Um die Wahrheit zu sagen, bin ich nicht aufrichtig zu dir gewesen. Ich habe deine Präsenz wahrgenommen, lange bevor du hergekommen bist. Ich bin zu vielem fähig, aber eine derartig eindringliche psychische Wahrnehmung erlebe auch ich nur sehr selten. Ich wusste lange vor deinem Eintreffen, dass mir die Begegnung mit einer Frau bevorsteht, die über eine sehr seltene Gabe verfügt.«
Dream hob eine Augenbraue. »Tatsächlich?«
King zuckte mit den Schultern. »Tatsächlich. Du bist eine einzigartige Rarität, Dream. Ein Mensch, bei dem das reichhaltige Reservoir seiner unglaublichen Kräfte noch vollkommen unangetastet ist. Du bist zu so vielem fähig und du hattest lange nicht die geringste Ahnung davon. Du musst diese Fähigkeiten einfach nur anzapfen, weiterentwickeln und perfektionieren. Wenn dir das gelingt, sind deinen Möglichkeiten so gut wie keine Grenzen gesetzt.«
Sie gab sich Mühe, nicht spöttisch zu grinsen. »Und du bist der Lehrmeister, auf den ich zeit meines Lebens gewartet habe, richtig?«
Seine Augen strahlten zuversichtlich. »Ja, Dream, das bin ich.«
Sie merkte, wie sich eine Art Trotz in ihr regte. Das Gefühl war ihr sehr willkommen. Sie empfand es als belebend, denn es erinnerte sie an ihre grundlegende Menschlichkeit. »Nun ja, Ed, das dürfte dir jetzt vielleicht absolut radikal vorkommen, aber vielleicht ziehe ich es ja vor, diese Kräfte unangetastet zu lassen. Vielleicht – und das könnte ein richtiger Schock für dich sein – bleibe ich lieber ein ganz normales Mädchen.«
Sein Ausdruck verfinsterte sich. »Du bist noch niemals normal gewesen, Dream. Das ist geradezu lächerlich.« Er lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. »Ich kann die Wahrheit über deine Seele spüren, und die Wahrheit ist, dass du dich deinesgleichen nie verbunden gefühlt hast. Du hast zwar viele Freunde, enge Freunde, aber du besitzt keine echte Verbindung zu ihnen, weil ihnen etwas ganz Entscheidendes fehlt.
Du hast nie herausgefunden, was das ist, aber ich kann dir diese Frage beantworten. Es ist diese Empfindsamkeit, Dream, deine besondere Fähigkeit, die es dir erlaubt, unter die Oberfläche zu schauen. Die Wahrheit zu erkennen. Wenn du lernst, was ich dir beibringen kann, wirst du noch weitaus bedeutendere Wahrheiten erfahren. Die ewigen Wahrheiten. Die Geheimnisse der Götter, Dream. Und das ist es durchaus wert, dass du deine Menschlichkeit dafür aufgibst, denke ich.«
Dream lachte höhnisch. »Ja, ich bin echt gut darin, versteckte Wahrheiten zu erkennen, Ed. Scheiße, ich bin sogar so gut darin, dass ich noch nicht einmal gemerkt habe, dass mein Exfreund auf Kerle und Schwänze steht.« Sie tippte sich mit ihrem Zeigefinger an ihre Schläfe. »Meine hellseherischen Kräfte sind wirklich unglaublich, was?«
King erwiderte nichts.
Er schien ins Leere zu starren.
Jetzt ist er böse auf mich, dachte Dream.
Die Vorstellung war aufregend und furchteinflößend zugleich. Sie befand sich, wie sie annahm, in der eher seltenen Situation, dass dieses Wesen ihr den Hof machte. Es wollte, dass sie an seiner Seite blieb, zu einem Teil von seinem wahnsinnigen Kosmos wurde – vermutlich der einzige Grund, weshalb sie noch kein grausames Schicksal ereilt hatte.
Dieser Gedankengang führte sie erneut zu Karen und Alicia. Sie befürchtete zwar, dass sie ihren Freundinnen nicht helfen konnte, falls sie in Schwierigkeiten steckten, spürte aber trotzdem die Verpflichtung, sich nach ihnen zu erkundigen. »Ich möchte dich etwas fragen, Ed, und ich hoffe, dass du mich so sehr respektierst, dass du mir eine ehrliche Antwort gibst.«
Sie sah, wie sein leerer Blick sich mit Neugier füllte. »Sympathie beschreibt noch nicht einmal annähernd das, was ich für dich empfinde, Dream.« Er lächelte. »Ich glaube, es ist weitaus mehr als das.«
Sie hob erneut eine Augenbraue. »Du glaubst, dass du mich liebst, Ed?« Kings Eingeständnis überraschte sie, und sie wich vollkommen von der Richtung ihrer ursprünglichen Frage ab. »Das kannst du nicht ernst meinen. Du hast mich doch gestern Abend erst kennengelernt. Und ich bin nicht … wie du.«
Er seufzte
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